Es folgt Teil vier meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.
Ich beginne mein Tagesprogramm mit einem Besuch bei Stanfords. Auf meiner To Do-Liste landete dieses Vorhaben aufgrund eines Guardian-Artikels aus dem Januar 2019, der anlässlich des Umzugs der Londoner Niederlassung nach 118 Jahren am gleichen Standort erschien. Im Mercer Walk scheint man indes noch nicht so recht heimisch geworden zu sein: Das Kellergeschoss wirkt allzu sehr wie ein zur Ladenfläche ausgebautes Lager. „Neuen Fußboden verlegen, Beleuchtungskonzept überdenken“, schießt mir spontan durch den Kopf. Aber dann konzentriere ich mich auf das Sortiment und bin schwer beeindruckt. Ich blättere lange in den Mappen mit den Nachdrucken historischer Karten, kann mich aber schlicht nicht entscheiden und verlasse den Laden, ohne etwas zu kaufen.
Vom Mercer Walk sind es nur ein paar Schritte bis zum Covent Garden Market. Dort halte ich mich nicht lange auf; es scheint sich nicht viel verändert zu haben seit meinem letzten Besuch und die bereits um diese Tageszeit einströmenden Menschenmassen nerven mich. Dennoch bleibe ich am Stand von Stu MacKay Fine Art hängen und bin kurzzeitig versucht, eine Illustration aus seiner „UK Invasion Series“ zu erwerben. Besonders gut gefallen mir „Phone Hacked“, „Time Machine“ und „The Invisible Man“. Ich beherrsche mich, laufe um den Platz und betrete den Eingangsbereich des London Transport Museum.
Irgendwann gehe ich bestimmt auch mal in die Ausstellung, aber heute halten mich das schöne Wetter und der Andrang am Ticketschalter ab. Ich belasse es beim Stöbern im angeschlossenen Shop und werde dort schließlich schwach. Das Moquettekissen mit dem „Barman“-Motiv ist ein eher ungewöhnliches Souvenir, zugegeben, aber gerade das macht es für mich unwiderstehlich. Abgesehen davon, dass ich als passionierte ÖPNV-Nutzerin nahezu alle Wege innerhalb der Stadt per Tube zurücklege.
Anschließend schlendere ich über Trafalgar und Leiceister Square bis zum Piccadilly Circus. Bei Waterstones Piccadilly verbringe ich eine geschlagene Stunde, dann bin ich bei Fortnum & Mason zum Lunch verabredet. Danach muss ich wenigstens noch auf einen Blick rüber zu Hatchards. Aus einer Laune heraus beschließe ich, von hier aus zum Themseufer zu laufen. Ich nehme den Weg über Whitehall und an 10 Downing Street vorbei. Der Prime Minister weilt in Frankreich, und so gibt es außer einer Handvoll Dauerdemonstranten und einem Pulk Touristen nicht viel zu sehen. Die Gegend um den Palace of Westminister gleicht einer gigantischen Baustelle, es ist laut, heiß und ungemütlich. Ich lege eine Pause in den Whitehall Gardens ein, bevor ich zu meiner Unterkunft zurückkehre.
Schon im Vorfeld des Nils Frahm-Konzerts am Abend im Printworks hatte ich umfangreiche Hinweise und Verhaltensregeln per E-Mail erhalten. Besonders eindrücklich wurde vor Taschendieben gewarnt, weswegen ich mit sehr leichtem Gepäck, nämlich nur meinem Personalausweis, ein wenig Bargeld und meiner Oyster Card anreise. Keine gute Idee, denn Speis und Trank gibt es vor Ort nur gegen Plastikgeld. Überhaupt ist London auf dem besten Weg, bargeldlos zu werden: Nahezu überall ist Kartenzahlung möglich, Straßenmusiker werben damit, dass man auch „contactless“ spenden könne (ab £2) und selbst die Prommers, die nach den Konzerten an den Türen der Albert Hall Spenden für den guten Zweck sammeln, haben ihrem Sprechchor ein „P.S.: You can use your card at door 6!“ hinzugefügt.
Die Veranstaltung, so scheint es mir, ist ein wenig überorganisiert. Schon vom Bahnhof Canary Wharf aus weisen Schilder und Ordner den Weg, vor Ort Absperrungen, eine offenbar eigens aufgestellte Bedarfsampel, noch mehr Schilder, Security, Leibesvisitation, Taschendurchsuchung; es wird ein Aufwand betrieben, als handele es sich um ein mehrtägiges Festival mit zigtausenden Besuchern. Tatsächlich ist die große, ca. 3.000 Besucher fassende Main Hall bis zum Beginn des Hauptacts gut gefüllt. Ich habe einen Platz in einer Nische im vorderen rechten Teil ergattert, aus der ich mich bis Konzertende nicht wieder hinaustraue. Der Nachteil eines handelsüblichen Hallenkonzerts – normalerweise meide ich solche Situationen.
Nils Frahm beginnt sein Set mit leisen Tönen und schnell wird klar, dass einige der Anwesenden mit anderen Erwartungen gekommen sind: Ein Lauttelefonierer direkt vor mir erntet zunächst kollektives Augenrollen, wird dann aber nach kurzer Schonfrist energisch weg gemobbt („What are you here for?!“). Die Steigerung lässt dann aber nicht lange auf sich warten. Ich kannte „All Melody“ bisher nur als Konzertsaal-Veranstaltung und erfahre nun, dass es auch eine Clubversion gibt, die entschieden dynamischer daherkommt. Und nicht nur das: Keine Orgelpfeife schnarrt im Hintergrund, keine knochentrockene Raumakustik und kein Echo zerstört die Beats; der Sound ist glasklar und satt. Mir geht auf, dass das, was da vorne auf der Bühne passiert, für Räume wie diesen und nicht für den Konzertsaal gemacht ist. Nils Frahm redet wenig, improvisiert dafür umso mehr und hält nach wenigen Minuten das inzwischen mehrheitlich aufgepeitschte Publikum derart in der Hand, dass man bei „My friend the forest“, „The Dane“ und „Familiar“ beinahe die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören kann. Ich bin hingerissen und habe längst vergessen, dass mir der Magen knurrt und ich auf dem Trockenen sitze.
Es ist Freitagnacht, dennoch endet der Auftritt nach 1 1/2 Stunden pünktlich um 23 Uhr – offenbar eine Veranstaltervorgabe. Wieder werden wir wie eine Herde vom Gelände geschleust und auf einem kleinen Umweg zum Bahnhof gelotst, um Lärmbelästigung für Anwohner zu vermeiden. Alles im Prinzip nicht schlecht gedacht, aber ein wenig bevormundet fühle ich mich doch.
Zurück im Beit Quadrangle überlege ich noch kurz, mir gewissermaßen nachträglich im Innenhofpub noch ein Bier zu gönnen. Ich bin aber inzwischen derart müde, dass ich den Gedanken rasch wieder verwerfe und mich direkt ins Bett verfrachte.