Eigentlich mag ich das Reeperbahn Festival nicht so sehr. Wenn aber eine Freundin spontan fragt, ob ich Lust habe, sie zu begleiten und mir die Decke eh gerade auf den Kopf fällt, schert mich mein Geschwätz von gestern wenig.
Verabredet waren wir auf dem Spielbudenplatz, auf dem zu diesem Zeitpunkt gerade Sam Himself auftrat.
Das war jetzt nicht außergewöhnlich, aber solide. Und eine Stimme hat der junge Mann, hmmmmmm! Die Zugabe war „Dancing in the dark“ von Bruce Springsteen. Sehr schöne Version. Genehmigt.
Unsere erste „richtige“ Station war die Prinzenbar. Dort starteten wir mit Das Weeth Experience und Carsten Brosda.
Eine „psychedelische Kulturtheorielesung“ nennen die Menschen von Michelle Records das, was es mittlerweile auch in „Willy-Brandt-rotem Vinyl“ unter dem Titel „Nichts Kommt Von Selbst Und Wenig Ist Von Dauer“ zu kaufen gibt: Carsten Brosda las aus seinem Buch „Mehr Zuversicht wagen“ und die Band improvisierte live dazu. Timing und Rhythmus, Text und Musik, das passte richtig gut. Falls es doch noch jemand nicht mitbekommen haben sollte – und solche Menschen soll es ja geben, sogar in Hamburg -: Carsten Brosda ist zurzeit der hiesige Kultursenator. In Hamburg macht der Kultursenator noch selbst Kultur! Leider verlor die Kombi während des Auftritts nicht wenige Zuschauer. Das ist die Krux mit so einem Festival: Immer ist irgendwo auch woanders noch etwas, vielleicht besseres, vielleicht einzigartiges und die beliebten Dinge füllen sich schnell, da darf man nicht zu spät reagieren. FOMO deluxe. Nicht gerade förderlich für die Konzentration auf das hier und jetzt.
Wir blieben jedenfalls bis zum Schluss und auch noch bis zum Ende des Konzerts von Dottie Anderson.
Das hat mich nicht vom Hocker gerissen, war aber ok. Auffällig, wie kurz die meisten Stücke waren. Das waren vielfach keine Songs, höchstens Songideen. Einer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne geschuldet? Streaming-Vorgabe? Früher gab es den Begriff des „Radio Edit“. Gibt es möglicherweise immer noch, heißt wahrscheinlich nur mittlerweile anders.
Einer Erwähnung bedarf noch das Zwischenspiel: Ein eigentlich nettes Gespräch mit einem der Security-Menschen driftete in trübe Gewässer ab, Stichwort Corona-Maßnahmen. Dabei hatte sich das mit der Schwurbelzone in Docks und Co. doch eigentlich erledigt? Dachte ich jedenfalls.
Unsere zweite Station war die St. Pauli Kirche. Dort hörten wir Lucy Clearwater.
Das passte zwar atmosphärisch ganz wunderbar zum Raum, wurde nur auf Dauer recht eintönig. Bemerkenswert: Lucy Clearwater hat auch Songs in deutscher Sprache geschrieben. Deren „Deutsch als Fremdsprache“-Charakter kann man zwar nicht abstreiten, gefallen haben sie mir aber trotzdem. Oder vielleicht auch gerade deswegen.
Zum Abschluss gingen wir ins Indra zu Kids Return.
Sound und Outfit der Band kann man nur als retro bezeichnen, mit einem Schuss Oasis im Gesang, was hervorragend harmonierte. Dermaßen retro war das, da haben wir mehrfach überprüfen müssen: Ist das jetzt Ironie oder meinen die Jungs das ernst? Offenbar Letzteres. Und die waren richtig gut!
Jedenfalls, so stelle ich mir das Reeperbahn Festival im Bestfall vor: Man stromert von Bühne zu Bühne, entdeckt Sachen, findet einiges so lala, anderes gut und manches klasse und fällt am Ende um viele Eindrücke bereichert (und eventuell auch ein klein wenig bier- oder weinselig) in die Koje. Ihr seht mich bekehrt.
Dummerweise kollidiert das Event nächstes Jahr mit einem spielentscheidenden Abgabetermin. Das finde ich jetzt schon schade.