„Erzählt, erzählt nur, Schulmeister“, riefen ein paar der jüngeren aus der Gesellschaft.
„Nun freilich“, sagte der Alte, sich zu mir wendend, „will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen.“
„Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen“, erwiderte ich; „traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!“
Theodor Storm: Der Schimmelreiter
Das Theater und ich, wir sind bisher nicht so recht warm geworden miteinander. Insbesondere, wenn es um zeitgenössische Inszenierungen und Formate geht. Wie ich neulich bei einer lebhaften Facebook-Diskussion über die von Jette Steckel inszenierte „Zauberflöte“ lernte, kann man das, mit dem ich in der Hauptsache fremdele, unter dem Begriff „Regietheater“ zusammenfassen.
Da nimmt also ein Regisseur ein Stück bzw. einen Stoff, transportiert ihn in einen anderen Zeitrahmen oder Zusammenhang und baut eigene Elemente ein. Im Falle der „Zauberflöte“ hinterließ mich das mit großen Fragezeichen, denn da tauchten Dinge auf, die sich meines Erachtens in keiner Weise mit der im Libretto erzählten Geschichte in Einklang bringen ließen. Was mich zu der Frage brachte: Wenn jemand eine neue/andere Geschichte erzählen will, warum gibt er nicht einfach ein neues Stück oder eine neue Oper in Auftrag? Oder: Warum heißt es dann „Wolfgang Amadeus Mozart: ‚Die Zauberflöte‘, Inszenierung: Jette Steckel“ und nicht „Jette Steckels ‚Zauberflöte'“? Das wäre für mich als unbelecktes Element jedenfalls deutlich übersichtlicher.
Ich mag außerdem keine Stücke, bei denen schauspielerische Leistung darin besteht, scheinbar zusammenhanglos herumzulaufen und zu schreien und in denen Blut, Sex, Exkremente, Gewalt und Nacktheit um ihrer selbst willen zum Einsatz kommen. Das mag für manche Menschen Theater sein, aber damit fange ich nichts an. Für mich ist das blanker Unsinn. Auf einem meiner neu entdeckten Lieblingssender, dem Deutschlandfunk, hörte ich unlängst zufällig die Sendung „Zwischentöne“, in der der Theaterkritiker Gerhard Stadelmaier zu Gast war. Der nannte diese Art von Darstellung „Blut-und-Hoden-Theater“ und brachte überhaupt ziemlich genau auf den Punkt, was mich an solcherlei Ausprägungen dieser Kunstform so irritiert. Womit ich mich vermutlich als stockkonservativ oute, aber dazu stehe ich, zumindest in diesem Zusammenhang, uneingeschränkt.
Trotz dieser Voraussetzungen wagte ich mich also gestern ins Thalia zur Premiere des „Schimmelreiters“ unter der Regie von Johan Simons. Der, wie in seiner Biografie zu lesen ist, im Alter von 7 Jahren die Flutkatastrophe von 1953 miterlebte. Wie geht so jemand mit dem Schimmelreiter um?
Die Antwort: Erstaunlich puristisch. Der Deich war ein Deich, die Glocke eine Glocke und der (tote) Schimmel ein (toter) Schimmel. Eine halbe Stunde verging und immer noch passierte nichts Ungeheuerliches. Ich war beinahe ein bisschen enttäuscht, genoss dann aber bald, mich nur auf das Spiel konzentrieren zu können (Barbara Nüsse! Jens Harzer!), auf den zyklischen Aufbau und die feinen, aber signifikanten Änderungen an der Konstellation des Ensembles, gerade bei den Wiederholungen. Erst ganz zum Schluß gab es einen Ausfallschritt, den man als Bruch werten kann. Ich möchte ungern spoilern und daher nur sagen: Ich meine das nicht, weil sich da kurz vor Dunkeltuten tatsächlich noch jemand auszieht. An dieser Stelle war Nacktheit sehr schlüssig und wurde zudem durch geschickte Beleuchtung abstrahiert.
Das Publikum wirkte am Ende ermattet: Dafür, dass außer dem Schimmelreiter nichts passierte, war’s dann doch arg lang. Vielleicht hätte man etwas straffen können. Aber als (Wieder-)Einstiegsdroge war das alles gar nicht so verkehrt.
Nachtrag: Neben mir saß übrigens jemand, der sich hauptberuflich mit der Materie beschäftigt. Was er zum Stück zu sagen hatte, kann man im „Hamburger Abendblatt“ nachlesen. Aber Achtung: Spoiler!