London (Part IV): Tag 5 & 6

Es folgt der letzte Teil meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Am Vormittag des vorletzten Tags steht zunächst eine Backstage-Führung im Barbican Centre auf dem Programm. Bisher kenne ich von diesem nur die Hall, das Foyer und die Barbican Kitchen, aber das Centre beherbergt neben einem Kino, einem Ausstellungsbereich, einer Bibliothek und zahlreichen weiteren Räumlichkeiten auch noch das ursprünglich eigens für die Royal Shakespeare Company erbaute Barbican Theatre, wo am Abend die letzte Vorstellung des laufenden Gastspiels gegeben wird. Auf dem Programm steht „Jesus Christ Superstar“ und ich bin zwar alles andere als ein Musical-Fan, aber ein Besuch des Barbican gehört für mich zu jedem Londonaufenthalt dazu, seit ich dort im Juli 2016 zum ersten Mal ein Konzert erleben durfte. So lerne ich nun das Barbican Theatre zumindest aus der rückwärtigen Perspektive kennen, und auch wenn ich mich über ein mangelndes Angebot in Hamburg wirklich nicht beklagen kann, so beneide ich die Londoner dennoch um diesen ganz besonderen Kulturhotspot.

Gleich zu Anfang der Führung werden wir in eine bauliche Kuriosität eingeweiht: Um vom Künstlereingang direkt zum Schnürboden („Fly Tower“) zu gelangen, kann man durch einen Vorraum des Männerklos abkürzen. Die Dame, die uns herumführt, nennt das eine „Narnia Experience“ und ich fühle mich an die Tür 7 3/4 der Royal Albert Hall erinnert. Während der gut einstündigen Runde mit den weiteren Stationen Green Room, Prompter, Bühnenbereich und Zuschauerraum dürfen leider keine Fotos gemacht werden, der copyrightgeschützten Kulissen und der Mitarbeiter wegen, die um uns herum die abendliche Aufführung vorbereiten. Unsere Führerin erzählt uns einiges über die Geschichte des Centre im allgemeinen und des Theatre im Besonderen, wir lernen, warum es – ähnlich wie auf einem Schiff – verpönt ist, im Backstagebereich zu pfeifen und dass die namentliche Erwähnung eines gewissen schottischen Stücks hinter der Bühne ebenso Unglück verheißt wie ein Green Room, der tatsächlich grün gestrichene Wände hat.

Der hoch aufragende „Fly Tower“, so erfahren wir noch nebenbei, passte seinerzeit nicht ins architektonische Konzept, weswegen er durch einen Aufsatz kaschiert wurde. Dieser Aufsatz beherbergt das Conservatory, welches normalerweise nur an wenigen (Sonn-)Tagen im Jahr öffentlich zugänglich ist, heute aber ausnahmsweise geöffnet hat.

Conservatory

Chilis & Peppers

Conservatory

Yellow

An geräumigen Dachgärten ist in London zwar wahrlich kein Mangel, aber das Barbican Conservatory sticht unter diesen zum einen durch seine schiere Größe und zum anderen dadurch hervor, dass die dschungelartige Landschaft mit dem brutalistischen Beton des Gesamtensembles eine überraschend schlüssige Allianz eingeht.

Conservatory

Please do not touch the plants

Conservatory

Conservatory

Conservatory

Den Nachmittag verbringe ich mit einem Ausflug zum tief im Osten der Stadt beheimateten The Who Shop, dem unvermeidlichen Besuch des Borough Market – neue Lieblingssorte von Whirld: Maple Fudge! – und einem Spaziergang entlang des Themseufers auf der Bankside bis hinunter zum Southbank Centre, vor dessen Toren praktischerweise gerade ein großer Bücherflohmarkt stattfindet.

Seite an Seite
Seite an Seite

Abends kann ich bei der Prom 48 zwei mir bislang nicht bekannte Rituale beobachten: Nach den „Three Pieces For Strings“ von Constantin Silvestri wird ein Flügel auf die Bühne gerollt und als die Bühnenarbeiter den Deckel öffnen, schallt es aus der Arena „Heave!“, was in der Gallery mit „Ho!“ beantwortet wird. Wenig später belohnen beide Fraktionen das Anschlagen des Kammertons a durch den ersten Geiger des BBCSO mit frenetischem Jubel. Beim anschließenden Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 16 von Sergei Prokofjew und der Zugabe, dem „Adagio“ aus Mozarts Klaviersonate Nr. 12, lerne ich den Pianisten Seong-Jin Cho kennen und schätzen. Das Publikum scheint ebenso angetan und auch die Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27 von Sergei Rachmaninow nach der Pause findet großen Anklang. Cristian Măcelaru, der Dirigient des Abends, ist Proms-Debütant und hat mit Sicherheit nicht zum letzten Mal auf dieser Bühne gestanden.

V&A
V&A

Den Vormittag des letzten Tages nutze ich zu einem Kurzbesuch des Victoria and Albert Museums. Es reicht gerade noch zur „Designing the V&A“-Tour, die mir einige neue Einblicke in Geschichte und Architektur des Hauses verschafft, da ist es auch schon wieder Zeit zum Aufbruch. Wie immer verlasse ich die Stadt mit dem Gefühl, eben erst richtig angekommen zu sein.

London (Part IV): Tag 1

Seit Tagen schon will ich mit der Nachlese zu „London (Part IV)“ beginnen, weiß aber nicht so recht, wie.

Vielleicht sollte ich mit der Vorfreude anfangen. Nach den Aufenthalten 2016 und 2017 habe ich 2018 einmal aussetzen müssen, des Jobwechsels wegen. Das ist mir überraschend schwergefallen. Zum Ausgleich nahm ich mir für 2019 einen längeren Aufenthalt auf der Insel vor. Ein paar Tage London, dann vielleicht hoch nach Schottland. Oder in den Lake District. Oder den Peak District. Oder in die Yorkshire Dales. Oder erstmal nach Wales. Aber da war ja auch noch die Sache mit dem Brexit. Man erinnere sich: Im Februar, als ich meinen Urlaub zu planen begann, stand als Austrittstermin noch der 29. März zur Debatte. Einen zwei- bis dreiwöchigen Aufenthalt ausschließlich mit ÖPNV-Transfers mitten ins „Deal or No Deal“-Ungewisse zu verlegen – vielleicht doch keine so gute Idee. Ich verwarf meine Überlegungen, entschied mich per Unterkunftsreservierung zu einem sechstägigen Londonaufenthalt und buchte daneben noch einen zehntägigen Ostsee-Segeltörn.

Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass zum Zeitpunkt meines Aufenthalts der Brexit immer noch nicht vollzogen sein würde. Von der Möglichkeit, dass Boris Johnson britischer Premierminister werden könnte ganz zu schweigen.

Die London-Tage mit Inhalt zu füllen, fiel mir angesichts des reichhaltigen Angebots nicht sonderlich schwer. Die BBC Proms waren natürlich gesetzt, außerdem wollte ich als bekennender NT Live-Fan unbedingt auch mal eine National Theatre-Produktion vor Ort besuchen. Das Musical („Jesus Christ Superstar“) im Barbican Centre reizte mich weniger, die Backstage-Führung dafür umso mehr. Und noch während ich über den Kauf eines Tickets für ein Kammermusikkonzert in St Martin in the Fields nachsann, kündigten Erased Tapes zu ebendiesem Datum einen Auftritt von Nils Frahm im Londoner Süden an. Innerhalb kürzester Zeit baute sich so in meinem Terminkalender eine nahezu perfekte Aneinanderreihung von Highlights auf. Die Tage bis zum Abreisedatum zogen und zogen sich…

Die Anreise verläuft ohne jeden Zwischenfall. Bis zum Check In-Zeitfenster meiner Unterkunft habe ich eine knappe Stunde zu überbrücken. Da kommt mir der wöchentliche Farmers Market auf bzw. am Queen’s Lawn sehr gelegen. Bei strahlendem Sonnenschein stärke ich mich mit einem Pulled Lamb-Burger und einem extrem schokoladigen Brownie – ein guter Anfang. Es ist Mittagspausenzeit: Der Markt ist gut besucht, das Publikum überwiegend studentisch und sehr international. Anschließend setze ich mich ein Viertelstündchen in den Innenhof des Beit Quadrangle, einem Gebäudekomplex unmittelbar neben der Royal Albert Hall, in dem auch mein Zimmerchen liegt. Wie schon vor zwei Jahren habe ich mich auch diesmal wieder in eines der Studentenwohnheime des Imperial College eingebucht. Beit Hall ist von außen wesentlich hübscher als Prince’s Gardens. Von innen betrachtet entpuppt sich die historische Substanz jedoch als weniger charmant. Dessen ungeachtet ist das Zimmer sauber und ordentlich und für meine Zwecke vollkommen ausreichend. Ich habe Glück: Das Fenster geht nach hinten raus, zum Hinterhof der Holy Trinity Church. Der Innenhof des Beit Quadrangle mag idyllisch erscheinen, beherbergt aber eine Bar mit Außenplätzen und der beachtliche Lärmpegel sinkt auch nach Beginn der offiziellen Nachtruhe nicht signifikant. Gut zu wissen fürs nächste Mal.

Nach dem Bezug des Zimmers muss ich erst einmal richtig ankommen. Ich laufe um die Albert Hall Richtung Albert Memorial und Kensington Gardens.

Italian Gardens
Italian Gardens

Fast zwei Stunden lang spaziere ich durch den Park und komme schließlich an einem schattigen Plätzchen im „Sunken Garden“ des Kensington Palace zur Ruhe. 2017 noch als „White Garden“ zu Ehren von Diana, Princess of Wales gestaltet, steht hier 2019 der 200. Geburtstag von Queen Victoria im Vordergrund.

Im collegeeigenen Minisupermarkt besorge ich mir anschließend meinen Lieblingstee und ein Sandwich und stimme mich auf den abendlichen Programmpunkt ein: die Prom 44 „Belshazzar’s Feast“ mit Sir Simon Rattle, dem London Symphony Orchestra, Gerald Finley, dem London Symphony Chorus, dem Orfeó Català und dem Orfeó Català Youth Choir.

BBC Proms 2019
BBC Proms 2019

Ich habe im zweiten Anlauf einen Gangplatz in den Stalls ergattert, Buchstabe M, Reihe 9, mit einem sehr guten Blick auf die Bühne. Schon nach wenigen Minuten vor Ort fällt mir ein Mann auf, der schräg gegenüber sitzt, von zahlreichen Konzertbesuchern persönlich begrüßt wird und mir irgendwie bekannt vorkommt. Das Sitzen fällt ihm schwer. Er wirkt angespannt, springt immer wieder auf und unterhält sich mit einer Reihe von Personen direkt hinter mir, die mit spanischem Akzent sprechen. Offenbar geht es um eine Reise nach Schottland am folgenden Tag. Es dauert eine Weile, bis mir aufgeht, dass dies sich eventuell auf den Gastchor des Abends, dem Orfeó Català, bezieht.

Schließlich beginnt das Konzert und zunächst haben Sir Simon Rattle und das LSO meine volle Aufmerksamkeit. „Les Bandar-Log“ von Charles Koechlin und „Amériques“ von Edgard Varèse gefallen mir gut. Leider fällt die knackige Schärfe einiger Passagen – insbesondere des Stücks von Varèse, bei dem sage und schreibe zehn Schlagwerker zum Einsatz kommen – der halligen Akustik zum Opfer. Was aber durch die sehr spezielle Proms-Stimmung mehr als wettgemacht wird. Insbesondere der Einsatz von Sirenenlauten in „Amériques“ löst beim Publikum Heiterkeit aus. Eine Reaktion wie diese hätte in der Elbphilharmonie bei einem Abokonzert oder einer Veranstaltung im Rahmen des Internationalen Musikfests vermutlich peinlich gewirkt. Die BBC Proms sind dagegen schon von der Grundidee her kein elitäres Festival und allein deshalb niemals bierernst zu nehmen. Dazu tragen nicht zuletzt die Prommers mit ihren teils bizarr anmutenden Ritualen bei. Wer die „Konzerte für Hamburg“ ins Feld führt, übersieht, dass diese Reihe für ein lokales, wenig klassikaffines Publikum konzipiert ist und im Konzertprogramm eine Nebenrolle spielt. Was man von den BBC Proms nun wirklich nicht behaupten kann. Eine riesige musikalische Bandbreite, Karten in allen Preisklassen, extensive Übertragung in Funk und Fernsehen: „Für alle“ funktioniert hier. Und sei es auch nur auf diesem einen Sektor.

Zurück zur Prom 44. Die Pause beginnt und mein Gegenüber wird zusehends nervöser. Ein Eisverkäufer läuft an mir vorbei, ich stoppe ihn, gönne mir einen Becher und freue mich darüber, den Zuschauerraum dafür nicht verlassen zu müssen. Rund drei Jahre sind vergangen seit meinem ersten und bisher einzigen Proms-Konzert. Eine gefühlte Ewigkeit. Ich will die Atmosphäre in vollen Zügen auskosten.

Der zweite Teil des Konzerts besteht aus „Belshazzar’s Feast“, einer Kantate von William Walton. Ich kannte zuvor weder das Stück noch den Komponisten und komplettiere meine Konzertvorbereitung durch das zwar werbelastige, aber ansonsten gut gestaltete Programmheft. In der Albert Hall werden nun alle Register gezogen: Im Gestühl hinter der Bühne mit dem LSO ziehen rund 300 Sängerinnen und Sänger auf, der Orgelspieltisch wird besetzt. Henry Woods Büste wirkt plötzlich sehr klein. Zwischenzeitlich bin ich mir nicht sicher, ob Orchester und Chöre noch synchron sind, aber auch hier wird die Raumakustik eine Rolle gespielt haben. Der Wirkung tut das keinen Abbruch. Ich bin überwältigt.

Dennoch fällt mein Blick immer wieder auf den nervösen Herrn jenseits des Ganges. Er sitzt wie auf Kohlen, singt, nein, fiebert jeden Choreinsatz mit. Kaum ist der letzte Ton verklungen, springt er auf, rast wie der Blitz aus dem Zuschauerraum, um wenige Minute später neben Sir Simon Rattle auf der Bühne aufzutauchen. Ich zücke mein Smartphone, bemühe Tante Google und finde heraus, dass es sich um Simon Halsey handelt, dem Leiter des London Symphony Chorus und Chordirektor des Orfeó Català. Er darf neben gleich drei Ehrendoktortiteln vor seit 2015 auch ein „CBE“ hinter seinem Namen führen, hat die „Queen’s Medal for Music“ verliehen bekommen und ist obendrein noch Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse. Laut Wikipedia hat er in Deutschland u. a. mit den Berliner Philharmonikern und als Berater für das Schleswig-Holstein Musik Festival gearbeitet und war von 2001 bis 2015 Chefdirektor des Rundfunkchors Berlin. Vielleicht habe ich ihn tatsächlich schon einmal auf irgendeiner Bühne stehen sehen.

Nach dem Konzert treibe ich mich noch eine Weile am Künstlerausgang herum, beobachte, wie Musiker mit ihren Instrumentenkoffern die Treppen zur Prince Consort Road hinunterlaufen und lausche dem Stimmengewirr der umher stehenden Chormitglieder. Es ist großartig. Ich bin wirklich da. Und mittendrin.

Hello London. It’s good to be back.