Freizeitstreß

Ich weiß nicht, ob es allen so geht, aber alle Jahre wieder in der Zeit von Oktober bis Dezember formiert sich in meinem Kalender diese eine Woche, in der man jeden Abend mindestens zweimal mit Konzerten oder anderen Kulturhighlights belegen könnte. Und da jedes Mal Unwiderstehlichkeiten dabei sind, entwickelt sich daraus regelmäßig eine Großkampfstrecke.

Dieser Tage ist es wieder so weit. Gewissermaßen als Vorbote spielte am Donnerstag vorvergangener Woche Francesco Tristano im kleinen Saal der Elbphilharmonie, am Montag folgte die National Theatre-Produktion von „A Mid Summer Night’s Dream“ im Savoy, am Mittwoch Ludovico Einaudi im Großen Saal und am Donnerstag das „Blind Date“ im Kleinen Saal wieder der Elbphilharmonie, gestern Abend standen Martin Kohlstedt und der Leipziger GewandhausChor in der Laeiszhalle auf der Bühne und morgen geht es nahtlos weiter mit meinem kleinen ungeraden Philharmoniker-Montagsabo. Dann ist dreieinhalb Wochen Konzertpause. Das aber auch nur, weil ich mein Max Richter-Ticket aus dienstreisetechnischen Gründen in gute Hände abgeben habe müssen.

Man verzeihe mir also, dass ich vorübergehend in den Schnelldurchlaufmodus umschalte.

Francesco Tristanos Debut in der Elbphilharmonie bestand aus der Präsentation seines aktuellen Albums „Tokyo Stories“. Anders als die „Piano Circle Songs“, die ich 2017 in der Royal Festival Hall hörte, sind die „Tokyo Stories“ mehrheitlich nicht Piano solo, sondern Piano plus Rhythmisch-Elektronisches besetzt, wobei letzteres mehr oder weniger vom Band (= Computer) lief. Man könnte sagen: Tristano spielte live auf dem Konzertflügel gegen sein elektronisches Ich. Das muss man so überzeugend wie geschehen auch erst einmal hinlegen. Symptomatisch nannte das zum Eintritt gereichte Infoblättchen – ich möchte es nicht Programm nennen, aber immerhin, es gab eines – den Track „Electric Mirror“ und ja, der ist definitiv symptomatisch für die Musik des Francesco Tristano, wenn auch nicht unbedingt für die „Tokyo Stories“. Das ist viel eher „The Third Bridge of Nakameguro“; es ist wohl kein Zufall, dass der Song auch für den Albumtrailer ausgewählt wurde.

Ich mochte die „Tokyo Stories“, die hektischen wie die kontemplativen, und es dauerte es eine Weile und mehrere vertiefende Durchgänge bei Spotify, bis ich herausfand, was mich an ihnen stört: Es sind die Sounds. Vermutlich passen sie ganz hervorragend zur beschriebenen Stadt, das kann ich mir sehr gut vorstellen, sogar ohne jemals dort gewesen zu sein. Aber sie passen nicht ganz in mein Ohr. Wobei, zugegeben, als Nils Frahm-Aficionado bin ich diesbezüglich extrem verwöhnt. Oder voreingenommen, je nach Blickwinkel.

Übrigens ist das Konzert Teil von ProArte X, wurde von Mischa Kreiskott (NDR Kultur Neo) anmoderiert und falls diese Reihe weiterlaufen sollte, werde ich mich wohl um ein Abo bemühen müssen.

Die Veranstaltung mit Ludovico Einaudi ein paar Tage später fiel gleich ein paar Nummern größer aus: Nicht nur, dass es ein Zusatzkonzert gab, beide Termine waren restlos ausverkauft und an beiden Abenden standen deshalb je eine gute Handvoll hoffnungsvoller Ticketsuchender frierend vorm Eingang. Die meisten waren mit klassischen Papier- bzw. Pappschildern bewaffnet, aber ich sah auch jemanden, der ein Tablet nutzte. Gar nicht so dumm, weil hintergrundbeleuchtet! Eine besondere Stimmung war das im Großen Saal: Das Publikum bestand mehrheitlich aus andächtig lauschenden Einaudi-Verehrern, darunter viele Elphi-Erstis und nicht wenige davon in Abendgarderobe. Das gelegentlich vernehmbare Hustenbonbonpapierknistern und die mindestens zwei aus Hosentaschen oder von Sitzen polternd abgestürzten Mobiltelefone finde ich unter solchen Umständen verzeihlich, denn da saßen keine gelangweilten Elbphilharmonie-Touristen, sondern Konzertsaalneulinge und doch, diesen Unterschied kann man hören und spüren. Apropos, wir können alle miteinander froh sein, dass die Sitze im Großen Saal nahezu geräuschlos hochklappen und auch die Türen im Flüstermodus bedienbar sind. Das ist in der Laeiszhalle leider ganz anders und entsprechend wirkt es sich auf die Nebengeräuschkulisse aus. Insbesondere, wenn es sich um ein Konzert mit mehrheitlich unkundigem Publikum und niedrigem Lautstärkepegel handelt, in das Zuspätkommer zu allem Übel dann auch noch unerklärlicherweise mitten im Stück eingelassen werden.

Aber zurück zu Ludovico Einaudi. Musikalisch gesehen bewege ich mich inzwischen in anderen Gewässern, aber vieles von dem, was mir heute selbstverständlich ist, hat mit ihm seinen Anfang genommen. Das habe ich nicht vergessen und ich kann es auch immer noch hören. Nichtsdestotrotz werde ich dieses Kapitel wohl mit dem Abend in der Elbphilharmonie abschließen.

Was keinesfalls für die Reihe „Blind Date“ im Kleinen Saal gilt! Nur ein paar Notenständer waren zu sehen, bevor die Überraschungsgäste des Abends vor dem Publikum erschienen. Pünktlich um kurz nach halb acht traten nicht weniger als acht Posaunisten aus der Tür und begannen ihren Auftritt höchst  effektvoll mit der „Olympic Fanfare“ von John Williams. Trombone Unit Hannover nennen sich die Musiker, die hauptamtlich in Orchestern wie den Bamberger und Hamburger Symphonikern, dem SWR Symphonieorchester, dem Orchester der Staatsoper Hannover, der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken oder dem Berliner Konzerthausorchester unterwegs sind.

Ich würde mich nun nicht gerade als blechbläseraffin bezeichnen, aber dieses Ensemble hat mich überzeugt. Meinen beiden Lieblingsstücken aus dem präsentierten Programm: die Improvisation über gregorianische Gesänge von Hildegard von Bingen und „Osteoblast“ von Derek Bourgeois.

Bleibt zum vorläufigen Schluss der gestrige Auftritt von Martin Kohlstedt und dem GewandhausChor in der Laeiszhalle, zu dem mir bis zur Stunde immer noch kein angemessener Wortbeitrag eingefallen ist, der über den Satz „Was für ein Geschenk!“ hinausgeht.

Aber vielleicht kommt das ja noch. Dann hole ich es nach.

Chorstafette

Da ist dieses eine Mitglied des Hamburger Mendelssohnchors, eine ehemalige Kollegin, die mir seit Jahren hartnäckig immer wieder per Postkarte Informationen zu dessen Konzertprogramm weiterleitet. Bis vor kurzem leider ohne Erfolg. Peinlich genug, sind mir doch insgesamt drei Chormitglieder – darunter ein weiterer ehemaliger Kollege – und die Chorleiterin persönlich bekannt. Aber in diesem Jahr passte es endlich einmal; von den drei zur Auswahl stehenden Terminen allerdings nur der in der Paul-Gerhardt-Kirche. Wesentlich näher wäre die Kreuzkirche Alt-Barmbek gewesen, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für das Mitglied des Chors St. Johannis, welches mir vor Ort in Altona unverhofft über den Weg lief – wir wohnen nämlich beide in Barmbek Nord und kennen uns über einen Herrn, der beinahe mein Kollege geworden wäre.

Durch diese Begegnung kam ich in den Genuss eines weiteren Chorkonzerts, das gestern in St. Johannis-Harvestehude stattfand. Dort traf ich zufällig das eingangs erwähnte Mitglied des Mendelssohnchors, das spontan eine mir ebenfalls bekannte Freundin begleitete, die wiederum, man wird es mir kaum glauben, eine Karte für den Platz neben mir auf der Empore hatte.

Heute Morgen schließlich war das nämliche Mitglied des Mendelssohnchors meine Begleitung beim 1. Morgen Musik-Konzert „Fensterkreuz“ der Hamburger Symphoniker unter der Leitung von Sylvain Cambreling. Die Karten hatte ich ausnahmsweise nicht gekauft, sondern vor einigen Wochen über den Symphoniker-Newsletter gewonnen. Das Programm war außergewöhnlich – und außergewöhnlich chormusiklastig. Zu hören war die Europa Chor Akademie Görlitz, unter deren Gründer und Leiter Joshard Daus ich vor etlichen Jahren als kleinstes Licht im Chor des Lippstädter Musikvereins die „Schöpfung“ singen durfte.

Hattrick komplett, Kreis geschlossen. Fürs Erste zumindest.

Oh, und musikalisch? Die ganze Bandbreite. In Altona „Eine Winterreise zwischen Romantik und Pop“, in Harvestehude Duke Ellingtons „Sacred Concert“ (mit Big Band, einer sensationellen Steptanzeinlage und der noch sensationelleren Solistin Rita Maria) und zuletzt in der Laeiszhalle „Perlen der Chormusik“ von Mozart, Tschaikowsky, Szymanowski und Strawinsky, kontrastreich kombiniert mit Sufi-Gesang von Aïcha Redouane und dem Ensemble Al-Adwâr. Einige Konzertbesucher hatten hör- und sichtbar Schwierigkeiten mit den ungewohnteren Klängen des Programms, wobei die Grenze für manche offenbar gleich hinter den Mozartstücken lag. Innerlich seufzend erinnerte ich mich an ähnliche Reaktionen aus vergangenen Symphoniker-Konzerten. Da ist noch Luft nach oben – beim Publikum, wohlgemerkt, nicht etwa beim Orchester oder seinem Chefdirigenten. Das gilt, wie ich seit heute weiß, nicht nur für die von vorzugsweise durch Abonnenten belegten Plätze der Preisklassen 2 und 3 im 1. Rang, sondern auch für die Beletage im Parkett.

Wie dem auch sei, so viel Chormusik wie in den letzten Wochen habe ich seit Jahren nicht gehört. Und dabei gleich einiges gelernt, z. B. dass es von so unterschiedlichen Komponisten wie Duke Ellington und Peter I. Tschaikowsky Kirchenmusikwerke gibt. Schlagt mich, aber das war mir neu!

Das nächste Konzert ist wieder mit Klavier und Elektronik und ich weiß schon, welcher der üblichen Verdächtigen aus der örtlichen Neigungsgruppe neben mir sitzen wird. Langweilig wird es deshalb bestimmt nicht. Und wer weiß, vielleicht sitzt auf dem Platz auf der anderen Seite neben oder hinter mir der Beginn der nächsten Stafette durchs Hamburger Musikdorf.

In Concert: Lambert in der Laeiszhalle

Ich bin schon wieder zwei Konzerte im Rückstand – ehrlich gerechnet sind es sogar drei Konzerte, zwei Lesungen und eine le voyage abstrait. Nicht alles davon wird Eingang ins Susammelsurium finden, aber zum Lambert-Konzert der vergangenen Woche im kleinen Saal der Laeiszhalle möchte ich doch schnell noch ein paar Sätze verlieren.

Das neue Album „True“ wurde bei Erscheinen nicht nur von einer Mockumentary flankiert, sondern auch damit beworben, dass Lambert sich in diesem zurück zu seinen Wurzeln als Solopianist bewegt. Im kleinen Saal der Laeiszhalle traten nichtsdestotrotz drei Musiker auf; neben dem Flügel waren Schlagzeug-, Synthesizer- und Gitarrenklänge zu hören. Das hatte bisweilen eine Jazztrio-Attitude, die mir sehr, sehr gut gefallen hat. Insbesondere bei „Vienna“.

Dabei klingt das auf „True“ konservierte „Vienna“ eher noch wie die Basis der Liveversion und genau so habe ich es ja eigentlich auch am liebsten. Uneigentlich wünsche ich mir bei Gelegenheit ein Livealbum. Geht da was, Lambert?

London (Part IV): Tag 4

Es folgt Teil vier meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Ich beginne mein Tagesprogramm mit einem Besuch bei Stanfords. Auf meiner To Do-Liste landete dieses Vorhaben aufgrund eines Guardian-Artikels aus dem Januar 2019, der anlässlich des Umzugs der Londoner Niederlassung nach 118 Jahren am gleichen Standort erschien. Im Mercer Walk scheint man indes noch nicht so recht heimisch geworden zu sein: Das Kellergeschoss wirkt allzu sehr wie ein zur Ladenfläche ausgebautes Lager. „Neuen Fußboden verlegen, Beleuchtungskonzept überdenken“, schießt mir spontan durch den Kopf. Aber dann konzentriere ich mich auf das Sortiment und bin schwer beeindruckt. Ich blättere lange in den Mappen mit den Nachdrucken historischer Karten, kann mich aber schlicht nicht entscheiden und verlasse den Laden, ohne etwas zu kaufen.

Vom Mercer Walk sind es nur ein paar Schritte bis zum Covent Garden Market. Dort halte ich mich nicht lange auf; es scheint sich nicht viel verändert zu haben seit meinem letzten Besuch und die bereits um diese Tageszeit einströmenden Menschenmassen nerven mich. Dennoch bleibe ich am Stand von Stu MacKay Fine Art hängen und bin kurzzeitig versucht, eine Illustration aus seiner „UK Invasion Series“ zu erwerben. Besonders gut gefallen mir „Phone Hacked“, „Time Machine“ und „The Invisible Man“. Ich beherrsche mich, laufe um den Platz und betrete den Eingangsbereich des London Transport Museum.

Irgendwann gehe ich bestimmt auch mal in die Ausstellung, aber heute halten mich das schöne Wetter und der Andrang am Ticketschalter ab. Ich belasse es beim Stöbern im angeschlossenen Shop und werde dort schließlich schwach. Das Moquettekissen mit dem „Barman“-Motiv ist ein eher ungewöhnliches Souvenir, zugegeben, aber gerade das macht es für mich unwiderstehlich. Abgesehen davon, dass ich als passionierte ÖPNV-Nutzerin nahezu alle Wege innerhalb der Stadt per Tube zurücklege.

Anschließend schlendere ich über Trafalgar und Leiceister Square bis zum Piccadilly Circus. Bei Waterstones Piccadilly verbringe ich eine geschlagene Stunde, dann bin ich bei Fortnum & Mason zum Lunch verabredet. Danach muss ich wenigstens noch auf einen Blick rüber zu Hatchards. Aus einer Laune heraus beschließe ich, von hier aus zum Themseufer zu laufen. Ich nehme den Weg über Whitehall und an 10 Downing Street vorbei. Der Prime Minister weilt in Frankreich, und so gibt es außer einer Handvoll Dauerdemonstranten und einem Pulk Touristen nicht viel zu sehen. Die Gegend um den Palace of Westminister gleicht einer gigantischen Baustelle, es ist laut, heiß und ungemütlich. Ich lege eine Pause in den Whitehall Gardens ein, bevor ich zu meiner Unterkunft zurückkehre.

Schon im Vorfeld des Nils Frahm-Konzerts am Abend im Printworks hatte ich umfangreiche Hinweise und Verhaltensregeln per E-Mail erhalten. Besonders eindrücklich wurde vor Taschendieben gewarnt, weswegen ich mit sehr leichtem Gepäck, nämlich nur meinem Personalausweis, ein wenig Bargeld und meiner Oyster Card anreise. Keine gute Idee, denn Speis und Trank gibt es vor Ort nur gegen Plastikgeld. Überhaupt ist London auf dem besten Weg, bargeldlos zu werden: Nahezu überall ist Kartenzahlung möglich, Straßenmusiker werben damit, dass man auch „contactless“ spenden könne (ab £2) und selbst die Prommers, die nach den Konzerten an den Türen der Albert Hall Spenden für den guten Zweck sammeln, haben ihrem Sprechchor ein „P.S.: You can use your card at door 6!“ hinzugefügt.

Die Veranstaltung, so scheint es mir, ist ein wenig überorganisiert. Schon vom Bahnhof Canary Wharf aus weisen Schilder und Ordner den Weg, vor Ort Absperrungen, eine offenbar eigens aufgestellte Bedarfsampel, noch mehr Schilder, Security, Leibesvisitation, Taschendurchsuchung; es wird ein Aufwand betrieben, als handele es sich um ein mehrtägiges Festival mit zigtausenden Besuchern. Tatsächlich ist die große, ca. 3.000 Besucher fassende Main Hall bis zum Beginn des Hauptacts gut gefüllt. Ich habe einen Platz in einer Nische im vorderen rechten Teil ergattert, aus der ich mich bis Konzertende nicht wieder hinaustraue. Der Nachteil eines handelsüblichen Hallenkonzerts – normalerweise meide ich solche Situationen.

Nils Frahm beginnt sein Set mit leisen Tönen und schnell wird klar, dass einige der Anwesenden mit anderen Erwartungen gekommen sind: Ein Lauttelefonierer direkt vor mir erntet zunächst kollektives Augenrollen, wird dann aber nach kurzer Schonfrist energisch weg gemobbt („What are you here for?!“). Die Steigerung lässt dann aber nicht lange auf sich warten. Ich kannte „All Melody“ bisher nur als Konzertsaal-Veranstaltung und erfahre nun, dass es auch eine Clubversion gibt, die entschieden dynamischer daherkommt. Und nicht nur das: Keine Orgelpfeife schnarrt im Hintergrund, keine knochentrockene Raumakustik und kein Echo zerstört die Beats; der Sound ist glasklar und satt. Mir geht auf, dass das, was da vorne auf der Bühne passiert, für Räume wie diesen und nicht für den Konzertsaal gemacht ist. Nils Frahm redet wenig, improvisiert dafür umso mehr und hält nach wenigen Minuten das inzwischen mehrheitlich aufgepeitschte Publikum derart in der Hand, dass man bei „My friend the forest“, „The Dane“ und „Familiar“ beinahe die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören kann. Ich bin hingerissen und habe längst vergessen, dass mir der Magen knurrt und ich auf dem Trockenen sitze.

Es ist Freitagnacht, dennoch endet der Auftritt nach 1 1/2 Stunden pünktlich um 23 Uhr – offenbar eine Veranstaltervorgabe. Wieder werden wir wie eine Herde vom Gelände geschleust und auf einem kleinen Umweg zum Bahnhof gelotst, um Lärmbelästigung für Anwohner zu vermeiden. Alles im Prinzip nicht schlecht gedacht, aber ein wenig bevormundet fühle ich mich doch.

Zurück im Beit Quadrangle überlege ich noch kurz, mir gewissermaßen nachträglich im Innenhofpub noch ein Bier zu gönnen. Ich bin aber inzwischen derart müde, dass ich den Gedanken rasch wieder verwerfe und mich direkt ins Bett verfrachte.

London (Part IV): Tag 1

Seit Tagen schon will ich mit der Nachlese zu „London (Part IV)“ beginnen, weiß aber nicht so recht, wie.

Vielleicht sollte ich mit der Vorfreude anfangen. Nach den Aufenthalten 2016 und 2017 habe ich 2018 einmal aussetzen müssen, des Jobwechsels wegen. Das ist mir überraschend schwergefallen. Zum Ausgleich nahm ich mir für 2019 einen längeren Aufenthalt auf der Insel vor. Ein paar Tage London, dann vielleicht hoch nach Schottland. Oder in den Lake District. Oder den Peak District. Oder in die Yorkshire Dales. Oder erstmal nach Wales. Aber da war ja auch noch die Sache mit dem Brexit. Man erinnere sich: Im Februar, als ich meinen Urlaub zu planen begann, stand als Austrittstermin noch der 29. März zur Debatte. Einen zwei- bis dreiwöchigen Aufenthalt ausschließlich mit ÖPNV-Transfers mitten ins „Deal or No Deal“-Ungewisse zu verlegen – vielleicht doch keine so gute Idee. Ich verwarf meine Überlegungen, entschied mich per Unterkunftsreservierung zu einem sechstägigen Londonaufenthalt und buchte daneben noch einen zehntägigen Ostsee-Segeltörn.

Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass zum Zeitpunkt meines Aufenthalts der Brexit immer noch nicht vollzogen sein würde. Von der Möglichkeit, dass Boris Johnson britischer Premierminister werden könnte ganz zu schweigen.

Die London-Tage mit Inhalt zu füllen, fiel mir angesichts des reichhaltigen Angebots nicht sonderlich schwer. Die BBC Proms waren natürlich gesetzt, außerdem wollte ich als bekennender NT Live-Fan unbedingt auch mal eine National Theatre-Produktion vor Ort besuchen. Das Musical („Jesus Christ Superstar“) im Barbican Centre reizte mich weniger, die Backstage-Führung dafür umso mehr. Und noch während ich über den Kauf eines Tickets für ein Kammermusikkonzert in St Martin in the Fields nachsann, kündigten Erased Tapes zu ebendiesem Datum einen Auftritt von Nils Frahm im Londoner Süden an. Innerhalb kürzester Zeit baute sich so in meinem Terminkalender eine nahezu perfekte Aneinanderreihung von Highlights auf. Die Tage bis zum Abreisedatum zogen und zogen sich…

Die Anreise verläuft ohne jeden Zwischenfall. Bis zum Check In-Zeitfenster meiner Unterkunft habe ich eine knappe Stunde zu überbrücken. Da kommt mir der wöchentliche Farmers Market auf bzw. am Queen’s Lawn sehr gelegen. Bei strahlendem Sonnenschein stärke ich mich mit einem Pulled Lamb-Burger und einem extrem schokoladigen Brownie – ein guter Anfang. Es ist Mittagspausenzeit: Der Markt ist gut besucht, das Publikum überwiegend studentisch und sehr international. Anschließend setze ich mich ein Viertelstündchen in den Innenhof des Beit Quadrangle, einem Gebäudekomplex unmittelbar neben der Royal Albert Hall, in dem auch mein Zimmerchen liegt. Wie schon vor zwei Jahren habe ich mich auch diesmal wieder in eines der Studentenwohnheime des Imperial College eingebucht. Beit Hall ist von außen wesentlich hübscher als Prince’s Gardens. Von innen betrachtet entpuppt sich die historische Substanz jedoch als weniger charmant. Dessen ungeachtet ist das Zimmer sauber und ordentlich und für meine Zwecke vollkommen ausreichend. Ich habe Glück: Das Fenster geht nach hinten raus, zum Hinterhof der Holy Trinity Church. Der Innenhof des Beit Quadrangle mag idyllisch erscheinen, beherbergt aber eine Bar mit Außenplätzen und der beachtliche Lärmpegel sinkt auch nach Beginn der offiziellen Nachtruhe nicht signifikant. Gut zu wissen fürs nächste Mal.

Nach dem Bezug des Zimmers muss ich erst einmal richtig ankommen. Ich laufe um die Albert Hall Richtung Albert Memorial und Kensington Gardens.

Italian Gardens
Italian Gardens

Fast zwei Stunden lang spaziere ich durch den Park und komme schließlich an einem schattigen Plätzchen im „Sunken Garden“ des Kensington Palace zur Ruhe. 2017 noch als „White Garden“ zu Ehren von Diana, Princess of Wales gestaltet, steht hier 2019 der 200. Geburtstag von Queen Victoria im Vordergrund.

Im collegeeigenen Minisupermarkt besorge ich mir anschließend meinen Lieblingstee und ein Sandwich und stimme mich auf den abendlichen Programmpunkt ein: die Prom 44 „Belshazzar’s Feast“ mit Sir Simon Rattle, dem London Symphony Orchestra, Gerald Finley, dem London Symphony Chorus, dem Orfeó Català und dem Orfeó Català Youth Choir.

BBC Proms 2019
BBC Proms 2019

Ich habe im zweiten Anlauf einen Gangplatz in den Stalls ergattert, Buchstabe M, Reihe 9, mit einem sehr guten Blick auf die Bühne. Schon nach wenigen Minuten vor Ort fällt mir ein Mann auf, der schräg gegenüber sitzt, von zahlreichen Konzertbesuchern persönlich begrüßt wird und mir irgendwie bekannt vorkommt. Das Sitzen fällt ihm schwer. Er wirkt angespannt, springt immer wieder auf und unterhält sich mit einer Reihe von Personen direkt hinter mir, die mit spanischem Akzent sprechen. Offenbar geht es um eine Reise nach Schottland am folgenden Tag. Es dauert eine Weile, bis mir aufgeht, dass dies sich eventuell auf den Gastchor des Abends, dem Orfeó Català, bezieht.

Schließlich beginnt das Konzert und zunächst haben Sir Simon Rattle und das LSO meine volle Aufmerksamkeit. „Les Bandar-Log“ von Charles Koechlin und „Amériques“ von Edgard Varèse gefallen mir gut. Leider fällt die knackige Schärfe einiger Passagen – insbesondere des Stücks von Varèse, bei dem sage und schreibe zehn Schlagwerker zum Einsatz kommen – der halligen Akustik zum Opfer. Was aber durch die sehr spezielle Proms-Stimmung mehr als wettgemacht wird. Insbesondere der Einsatz von Sirenenlauten in „Amériques“ löst beim Publikum Heiterkeit aus. Eine Reaktion wie diese hätte in der Elbphilharmonie bei einem Abokonzert oder einer Veranstaltung im Rahmen des Internationalen Musikfests vermutlich peinlich gewirkt. Die BBC Proms sind dagegen schon von der Grundidee her kein elitäres Festival und allein deshalb niemals bierernst zu nehmen. Dazu tragen nicht zuletzt die Prommers mit ihren teils bizarr anmutenden Ritualen bei. Wer die „Konzerte für Hamburg“ ins Feld führt, übersieht, dass diese Reihe für ein lokales, wenig klassikaffines Publikum konzipiert ist und im Konzertprogramm eine Nebenrolle spielt. Was man von den BBC Proms nun wirklich nicht behaupten kann. Eine riesige musikalische Bandbreite, Karten in allen Preisklassen, extensive Übertragung in Funk und Fernsehen: „Für alle“ funktioniert hier. Und sei es auch nur auf diesem einen Sektor.

Zurück zur Prom 44. Die Pause beginnt und mein Gegenüber wird zusehends nervöser. Ein Eisverkäufer läuft an mir vorbei, ich stoppe ihn, gönne mir einen Becher und freue mich darüber, den Zuschauerraum dafür nicht verlassen zu müssen. Rund drei Jahre sind vergangen seit meinem ersten und bisher einzigen Proms-Konzert. Eine gefühlte Ewigkeit. Ich will die Atmosphäre in vollen Zügen auskosten.

Der zweite Teil des Konzerts besteht aus „Belshazzar’s Feast“, einer Kantate von William Walton. Ich kannte zuvor weder das Stück noch den Komponisten und komplettiere meine Konzertvorbereitung durch das zwar werbelastige, aber ansonsten gut gestaltete Programmheft. In der Albert Hall werden nun alle Register gezogen: Im Gestühl hinter der Bühne mit dem LSO ziehen rund 300 Sängerinnen und Sänger auf, der Orgelspieltisch wird besetzt. Henry Woods Büste wirkt plötzlich sehr klein. Zwischenzeitlich bin ich mir nicht sicher, ob Orchester und Chöre noch synchron sind, aber auch hier wird die Raumakustik eine Rolle gespielt haben. Der Wirkung tut das keinen Abbruch. Ich bin überwältigt.

Dennoch fällt mein Blick immer wieder auf den nervösen Herrn jenseits des Ganges. Er sitzt wie auf Kohlen, singt, nein, fiebert jeden Choreinsatz mit. Kaum ist der letzte Ton verklungen, springt er auf, rast wie der Blitz aus dem Zuschauerraum, um wenige Minute später neben Sir Simon Rattle auf der Bühne aufzutauchen. Ich zücke mein Smartphone, bemühe Tante Google und finde heraus, dass es sich um Simon Halsey handelt, dem Leiter des London Symphony Chorus und Chordirektor des Orfeó Català. Er darf neben gleich drei Ehrendoktortiteln vor seit 2015 auch ein „CBE“ hinter seinem Namen führen, hat die „Queen’s Medal for Music“ verliehen bekommen und ist obendrein noch Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse. Laut Wikipedia hat er in Deutschland u. a. mit den Berliner Philharmonikern und als Berater für das Schleswig-Holstein Musik Festival gearbeitet und war von 2001 bis 2015 Chefdirektor des Rundfunkchors Berlin. Vielleicht habe ich ihn tatsächlich schon einmal auf irgendeiner Bühne stehen sehen.

Nach dem Konzert treibe ich mich noch eine Weile am Künstlerausgang herum, beobachte, wie Musiker mit ihren Instrumentenkoffern die Treppen zur Prince Consort Road hinunterlaufen und lausche dem Stimmengewirr der umher stehenden Chormitglieder. Es ist großartig. Ich bin wirklich da. Und mittendrin.

Hello London. It’s good to be back.

Internationales Sommerfestival 2019 auf Kampnagel

Und im nächsten Jahr mache ich es wieder richtig. Mit Festivalkarte und so.

Soweit der gute Vorsatz, geäußert in der Nachbetrachtung zum letztjährigen Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel. Den muss ich wohl Anfang des Jahres, die BBC Proms fest im Blick, schon wieder komplett verdrängt gehabt haben. Als ich nämlich die dritte Festivalwoche des Jahres 2019 mit einer Urlaubsabwesenheit überplante. Es rächte sich. Ich sag nur: Chilly Gonzales.

Nun tritt der Mann ja durchaus öfter in Hamburg auf. Unter normalen Umständen also höchstens ein Fall von blödes Timing. Aber: Solo Piano I, II und III. In der Elbphilharmonie. Für mich ist das einer dieser Konzertwünsche, die man gar nicht erst zu denken wagt, geschweige denn zu äußern. Kommt wahrscheinlich auch nicht wieder. Und dann auch noch Kid Koala. Seit „Nufonia must fall“ (2014) bin ich Fan. „Satellite Turntable Orchestra“ findet nun leider ohne mich statt.

Ich fluchte. Sehr, sehr laut.

Aber hilft ja alles nichts, meine Bilanz kommt nun also schon nach zwei von drei Wochen und insgesamt sechs Veranstaltungen. Mit Festivalkarte. Eine Steigerung, immerhin.

Carsten „Erobique“ Meyer & Paul Pötsch & Lea Connert: Wir treiben die Liebe auf die Weide

Nach den Erfahrungen der letzten beiden Jahre entschied ich mich am ersten Festivaltag gegen die „große“ Eröffnung in der K6 („Marry me in Bassiani“) und für die Erforschung der DDR-Musik der 60er und 70er Jahre. Beim Betreten der K1 war ich zunächst verschnupft, denn die vorhandene Bestuhlung reichte bei weitem nicht für alle der knapp 300 Karteninhaber. Der Satz „da haben sie wohl ein paar mehr Tickets verkauft, als hier Platz ist“ schwebte durch den Raum. Offenbar hatte nicht nur ich mit mehr Inszenierung und weniger Konzert gerechnet. Innerlich murrend platzierte ich mich auf dem Boden vor der Bühne, wo sich bereits einige Sitzgrüppchen gebildet hatten. Gegen diese Stimmung anzuspielen erwies sich sowohl für die Band als auch den als Ansager und Einpeitscher beständig vor, auf, neben und hinter der Bühne irrlichternden Bernd Begemann als gar nicht so einfach. Aber spätestens beim Titelsong von Nina Hagen & Automobil hatten sie mich.

Ich kannte aus dem Programm nur „Der blaue Planet“ von Karat. Keine Kunst, zugegeben. Im Ohr behalten habe ich neben „Komm komm (Wir treiben die Liebe auf die Weide)“ insbesondere „He, wir fahr’n mit dem Zug“ von Veronika Fischer (fällt mir bestimmt wieder ein, wenn ich das nächste Mal dienstlich nach Rostock muss), „Sing nur“ von Gjon Delhusa (grandioser Auftritt von Sidney Frenz) und „Mont Klamott“ von Silly. Kurzum: Nicht unbedingt, was ich erwartet hatte, aber musikalisch unbestritten großartig.

Socalled & Friends: Space – The 3rd Season feat. Kiran Ahluwalia

Socalled, das Kaiser Quartett und die Puppen, das musste natürlich. Nach der Erfahrung mit „The 2nd Season“ im vorletzten Jahr lockten mich an „Space“ in erster Linie die Songs und das Puppenspiel als solches. Aber ich wollte auch wissen, wie die Geschichte von Bär, Tami und Tina weitergeht.

Allein, die Story war noch ein wenig dünner als im vorangegangenen Kapitel, der Mitmachteil fürs Publikum zündete nicht und was die von Kiran Ahluwalia verkörperte außerirdische Königin an „Singing in Harmony“ eigentlich so verwerflich findet, hat sich aus sprachlichen Gründen vermutlich auch nicht jedem der Anwesenden erschlossen. Da fehlte ein Twist. Und Raffinesse. Schade.

(La)Horde: Marry me in Bassiani

Während ich auf den Beginn von „Space – The 3rd Season“ wartete, entschied ich mich spontan, „Marry me in Bassiani“ doch noch eine Chance zu geben. Nicht zuletzt des Nachtkritik-Artikels wegen. Wir liegen nicht immer auf einer Wellenlänge, aber wenn Falk sagt: „Diesmal hat mir die Eröffnung wirklich gut gefallen!“ interpretiere ich das als klare Empfehlung.

Und tatsächlich, auch ich mochte es, wenn auch mit kleinen Abstrichen. Ich mochte den (Volks-)Tanz, der aber, über die Gesamtlänge gesehen, zu sehr ausgewalzt und als Selbstzweck zelebriert wurde. Ich mochte das Bühnenbild und die Kostüme, konnte die musikalische Entwicklung nachvollziehen und war fasziniert von einzelnen Szenen (der Brautstrauß!), aber Story und Botschaft des Stücks als Ganzes erschlossen sich mir nicht. In anderen Worten: Viel Tanz und (zu) wenig Theater. Mitreißend aber allemal.

Kris Verdonck: SOMETHING (out of nothing)

„Eine synästhetische Theaterüberwältigung in Zeiten des Klimawandels“, hatte ich im Programmheft über „SOMETHING (out of nothing)“ gelesen und mich folglich auf einiges gefasst gemacht. Leider war das einzige, was mich während der rund 85 Minuten Laufzeit überwältigte, eine bleierne Langeweile. Zwar gefielen mir die Kostüme, der (Cello-)Sound und die Skulpturen, man sah und hörte aber ansonsten viele Worte bei wenig Tanz, noch weniger Handlung und so gut wie gar keinem Schauspiel. Das Publikum in der K2 reagierte verhalten. Eine „4th Season“ von Socalled würde ich mir trotz der oben beschriebenen Defizite noch anschauen, Kris Verdonck habe ich dagegen fürs Erste von meiner Liste gestrichen. Eine waschechte Niete.

Agnieszka Polska/Metahaven/Robert Lippok & Lucas Gutierrez: The New Infinity 2019

Sommerfestival goes Planetarium – warum auch nicht! Mit „Immersion – The New Infinity“ der Berliner Festspiele wehte zur Abwechslung mal ein anderer Wind in der ansonsten edutainment- und altstarrocklastigen Programmstruktur unter der Kuppel. Gezeigt wurden drei Werke: „Elektra“ von Metahaven, „Non-Face“ von Robert Lippok & Lucas Gutierrez und „The Happiest Thought“ von Agnieszka Polska.

Davon hat mir „Non-Face“ am besten gefallen, der Grafik wegen. Mit „The Happiest Thought“ konnte ich dagegen wenig anfangen und obwohl ich planetarisch erfahren bin, hat mir die 360°-Wackelkamera bei „Elektra“ ziemlich zu schaffen gemacht.

Richard Reed Parry presents Quiet River of Dust

Im Anschluss lud Richard Reed Parry zu seinem Fulldome-Unterwassertrip „Quiet River of Dust“.

Das war mir persönlich zwar ein klein wenig zu psychedelisch. Aber herrlich erfrischend verglichen mit den regelmäßigen Konzert- und Musikshows des Hauses: Pink Floyd, Queen, DJ Jondal, Tabaluga…

Sommerfestival

Und sonst so? Über den Avant-Garten kann ich diesmal nichts schreiben – es gab nämlich keinen. Das Eis war lecker, die Playlist hilfreich, der Codo-Buchstand wie immer stöbernswert und ganz hinten in der Ecke, hinter den Klos nahe dem Eingang zur kmh, habe ich sogar ein Stückchen Festivalvorhang entdeckt. Leider hatte ich darüber hinaus viel zu wenig Gelegenheit, neben dem Hallenprogramm Festivalluft zu schnuppern. Das muss dringend wieder anders werden.

Nächstes Jahr. Ganz bestimmt.

Klavier hoch zwei

Hier fehlt noch etwas, nämlich wenigstens ein Kurzbericht über zweimal Klavier.

Schon vor einer Woche präsentierte Martin Tingvall sein neues Soloalbum „The Rocket“ im Kleinen Saal der Elbphilharmonie, zum ersten Mal live und obendrein vor heimischen Publikum, und gestand ganz offen seine Nervosität ob dieser Kombination ein. Die man auch tatsächlich hören konnte, da war noch nicht alles im Flow. Was zugegebenermaßen Jammern auf sehr hohem Niveau ist und sich zudem mit der Zeit von selbst erledigen wird. Auf alle Fälle hätte ich gerne mehr Soloauftritte von Martin Tingvall.

Womit ich aber ausdrücklich nichts gegen das Trio gesagt haben will! Wir merken uns schon einmal den 18.12.2019, da gibt’s nämlich wieder ein Jahresabschusskonzert in der Fabrik.

Tags zuvor hatte ich noch bei Martha Argerich und den Hamburger Symphonikern in der Laeiszhalle gesessen. Ich hatte mir aus den diesjährigen Festivalkonzerten ganz bewusst eines mit Sylvain Cambreling ausgesucht, wohl wissend, dass der Star des Abends und des Festivals vermutlich wieder nur einen kleinen Teil des Programms bestreiten würde. Die Rechnung ging auf: Von der ersten bis zur letzten Note war das alles ganz phantastisch. Und dass Martha Argerich aufgrund einer gerade erst überstandenen Bronchitis und der stickigen Luft in der so gar nicht klimatisierten Laeiszhalle etwas angeschlagen wirkte, konnte man zwar ahnen, aber nicht hören.

Das nächste Klaviervergnügen wird wieder ein ganz anderes, nämlich eins mit Bodo Wartke im Thalia Theater.

Reflektor Nils Frahm

Die Frage „Was machen an Pfingsten?“ hatte sich für mich spätestens mit der Durchsicht der diversen Kulturprogrammhefte für die Saison 2018/2019 erledigt. Nils Frahm kuratiert ein Mini-Festival in der Elbphilharmonie? Kauf ich. Blind!

Naja, so blind dann letztlich doch nicht. Auch mein Kulturbudget ist begrenzt und eine Flatrate gab es leider nicht. Es reichte immerhin für

sowie als Beifang

  • die Fotoausstellung „Fourth Wall – Stages & Cages“ von Klaus Frahm (wann kommt endlich der Bildband?!) und
  • den Kurzfilm „Ellis“ mit Robert de Niro.

Gerne hätte ich auch den Workshop „Polyrhythmus verstehen und umsetzen“ von Sven Kacirek besucht, aber da war ich leider nicht fix genug beim Vorverkauf. Und eigentlich hatte ich auch noch eine Karte für die After-Show-Party am Samstag auf der MS Stubnitz, aber dazu später.

Die Gentleman Losers waren mir schon mehrfach über den Weg gelaufen. Der Spotify’sche Algorithmus machte mich bereits vor Jahren mit dem Track „Ballad of Sparrow Young“ aus dem Album „Dustland“ bekannt, eine Empfehlung der ich gerne gefolgt bin. Es hätte ruhig ein klein wenig mehr live und weniger „vom Band“ sein können beim Auftritt des Duos am frühen Samstagabend, aber sei’s drum. Die stimmige Kombination aus Musik und filmischer Collage gefiel.

Martyn Heyne freute sich als gebürtiger Hamburger im Anschluss ganz besonders über den lokalen Premierenort seines Soloprogramms. Nichts gegen die Kantine am Berghain, aber gegen den kleinen Elphi-Saal kommt der Laden nicht an. (Vorausgesetzt man kann ohne Rauchwerk.)

Überhaupt, die Freude. Nils Frahm hüpfte bei seinem Auftritt geradezu über die Bühne und Arthur Jeffes und seine Mitstreiter von Penguin Café strahlten tags drauf im Großen Saal um die Wette darüber, im Selbstversuch die Unterschiede der Akustik von Royal Albert Hall und Elbphilharmonie erforschen zu dürfen. Was dem Tour-Trailer übrigens noch fehlt: Termine auf dem Kontinent.

Fröhliche Gesichter gab es auch im Publikum, insbesondere bei Nils Frahm am Samstagabend. Ich sah und hörte „All Melody“ zum insgesamt vierten Mal: Köln war ganz am Anfang, Hamburg gut eingespielt und München Routine – Anekdoten wie Noten in nahezu perfekter Wiederholung dessen, was ich schon kannte. Ich will nicht von Enttäuschung sprechen, aber ernüchtert war ich doch. Glücklicherweise war beim Reflektor-Konzert das Spielkind wieder da. Hurra!

Den Abschluss des Festivals bildeten Erlend Øye und la Comitiva mit stargaze. Dass der Norweger mit seiner tiefenentspannten Grundhaltung noch jeden Saal zum Tanzen bringt, wurde in der Elbphilharmonie nicht widerlegt – ganz im Gegenteil. Als Ergänzung des Quartetts wären mir stargaze nicht als erstes eingefallen, aber das funktionierte geradezu zauberhaft gut. Und was machte die aufgezählte Versammlung mit dem Weinberg? Sie stellte sich im Kreis auf der Bühne auf. Großes Lob auch dafür. Zur letzten Zugabe gesellte sich noch Nils Frahm am Flügel dazu und da war es endlich wieder, das „Possibly Colliding“-Gefühl.

Zu gern hätte ich diesen Reflektor in vollen Zügen genossen. Leider war mein Vergnügen ziemlich eingetrübt, denn am Samstag ist in der Schwingemündung ein Schiff gesunken, welches mir sehr am Herzen liegt.

No. 5 Elbe
No. 5 Elbe
No. 5 Elbe
No. 5 Elbe

Die After-Show-Party auf der Stubnitz habe ich daher ausgelassen.

In Concert: Elbjazz 2019

„Für die einen ist es das Elbjazz-Festival, für die anderen der größte Biergarten Hamburgs!“

Das klingt vielleicht ein wenig gemein, aber den Eindruck konnte man mit Blick auf das Blohm+Voss-Gelände durchaus bekommen. Die Übernahme der Veranstaltung durch Karsten Jahnke ab 2017 mag das Elbjazz finanziell und grundsätzlich gerettet haben, aber angesichts der damit verbundenen Veränderungen frage ich mich nun im Jahr drei, ob ich dort noch richtig bin.

Das liegt in der Hauptsache daran, dass mich in erster Linie die kleineren Konzerte interessieren, das Festival aber insgesamt auf Masse setzt. So wird bei Blohm+Voss seit letztem Jahr leider nur noch die Alte Schiffbauhalle bespielt, die zweite kleine Bühne in der Schiffbauhalle 3 fehlt. Hinzu kommt, dass viele Veranstaltungen mittlerweile in den Sälen der Elbphilharmonie stattfinden und man sich frühzeitig und lange vor Bekanntgabe des restlichen Spielplans auf eines (!) dieser Konzerte festlegen muss.

Alte Schiffbauhalle
Alte Schiffbauhalle

Und dann ist da noch das Transferproblem zwischen den einzelnen Schwerpunkten, in diesem Jahr verschärft durch die Sperrung der U-Bahnlinie zwischen St. Pauli und Baumwall. Wer bei zeitlich nah aneinander liegenden Auftritten an weit auseinander liegenden Orten einen akzeptablen (Sitz-)Platz ergattern wollte, musste gut zu Fuß sein – auf den Busshuttle konnte man sich da im Zweifel nicht verlassen. Meine neue persönliche Bestleistung auf der Strecke St. Katharinen – Baumwall – Landungsbrücken – Alter Elbtunnel – Blohm+Voss beträgt knapp unter 40 Minuten.

Am zweiten Festivaltag bin ich diese Strecke gleich zweimal gelaufen: einmal, um es von KID BE KID feat. Julia Kadel gerade noch rechtzeitig in die Alte Schiffbauhalle zu Shalosh zu schaffen. Eigentlich hätte ich danach gleich wieder umkehren müssen, zu Hans Lüdemann nämlich. Aber das war mir einfach zu stressig. Stattdessen probierte ich es ersatzweise mit der Hauptbühne, auf der wenig später Sophie Hunger antrat. Mein Fall, so erkannte ich schnell, war die Dame allerdings nicht und der Vorplatz war zu diesem Zeitpunkt schon dermaßen bevölkert, dass ich allein aus diesem Grund schon das Weite gesucht hätte. Nach kurzem Zwischenstop zwecks Verpflegung bin ich daher wieder zurück Richtung St. Katharinen, gerade noch rechtzeitig, um das letzte Stück von Herrn Lüdemann zu hören und im Anschluss satte 1 1/2 Stunden auf den Auftritt von Teresa Bergmann zu warten. Alternativlos, denn die HFMT Young Talents-Bühne war um diese Uhrzeit bereits verwaist, in die Elbphilharmonie kam man ohne Sitzplatzticket nicht hinein, die MS Stubnitz war für einen spontanen Ausflug zu weit entfernt und abgesehen von der noch längeren Wegstrecke zurück zu Blohm+Voss habe ich Tower of Power schon als Jugendliche gehasst.

Gesehen/gehört hatte ich zuvor am ersten Tag: Joja Wendt, ADHD, das Michael Wollny Trio und Kit Downes. Die beiden Klaviateure waren erwartungsgemäß großartig, dazwischen fügten sich ADHD nahtlos ein – meine persönliche Entdeckung der diesjährigen Elbjazz-Auflage!

Für Kit Downes‘ Orgelexpeditionen in der Elbphilharmonie fehlte mir zum Schluss leider die Konzentration. Höchstwahrscheinlich wäre ich bei Jamie Cullum auf der Hauptbühne bei Blohm+Voss besser aufgehoben gewesen. Aber einfach mal eben wechseln ging halt nicht.

Auch der Auftritt von KID BE KID an Tag zwei hat mir gut gefallen. Gesang, Beatbox und Klavier live und gleichzeitig, so etwas funktioniert ja nur, wenn man es kann – sie kann, und wie!

Den anschließenden Sprint zu Shalosh habe ich musikalisch ebenso wenig bereut wie die Wartezeit bis zum Auftritt von Teresa Bergman als Schlusspunkt des Elbjazz-Programms in St. Katharinen.

Wie schon im letzten Jahr habe ich auch diesmal wieder die MS Stubnitz und die HFMT Young Talents-Bühne auslassen müssen. Besonders schade war’s um Glass Museum und die Rocket Men. Ins übrige Elbphilharmonie-Programm habe ich gar nicht mehr geschaut. Um mich nicht ärgern zu müssen.

Am Helgen
Am Helgen

Fazit? Die Perlen sind (immer noch) da, daran liegt es nicht. Allein, die Schale drum herum ist gefühlt deutlich dicker geworden, und mühsamer zu knacken. Auf mich passt wohl einfach das Format nicht mehr.

Ein Abschied also. Oder mindestens ein Aussetzen. Man soll ja niemals nie sagen.

In Concert: „The Rake’s Progress“ in der Elbphilharmonie

„Diese neue Oper da, an der Elbe“, so wird die Elbphilharmonie gelegentlich von orts- und/oder kulturunkundigen Menschen beschrieben. Aber manchmal stimmt es eben doch, so z. B. gestern: Eine konzertante Aufführung von Strawinskys Oper „The Rake’s Progress“ bildete den Abschluss des 4. Internationalen Musikfests Hamburg, und keine Geringere als Barbara Hannigan dirigierte die diversen Ensembles, die dazu zusammen gekommen waren (Ludwig, Cappella Amsterdam und sechs Solisten aus den Reihen der Equilibrium Young Artists).

Das mit dem Gesang in der Elbphilharmonie ist ja bekanntermaßen eine knifflige Sache. Ich kann diese Kritik nicht teilen: Auf meinem Platz schräg hinter der Bühne konnte ich alle Sänger gut hören (und streckenweise sogar verstehen), die mir nicht oder zumindest nicht ständig den Rücken zudrehten. Das waren insbesondere die männlichen Stimmen der Cappella Amsterdam, aber auch viele der Solisten. Die Übrigen waren gegenüber dem Orchester immerhin noch passabel hörbar. Zwar ist es leider noch immer nicht bei allen angekommen, dass „frontal“ im Großen Saal ein relativer Begriff ist, aber das scheint mir tatsächlich das Hauptproblem zu sein. Zumindest, wenn man den Raum und seine Akustik im Griff hat. Und das hat Barbara Hannigan zweifelsohne.

Apropos Oper und frontal, dazu noch ein Hinweis ans Haus: Die Übertitel auf zwei von vier Seiten zu projizieren ist schon einmal sehr löblich, aber wenn zusätzlich zu vorne und hinten auch links und rechts ginge, müssten alle, die seitwärts sitzen, sich die Köpfe nicht so verdrehen. Bei fast drei Stunden Spielzeit geht das in meinem Alter schon ein klein wenig auf die Nackenwirbelsäule.

An dieser Stelle unerwähnt blieb übrigens bisher das Konzert des NDR Elbphilharmonie Orchesters unter der Leitung von Paavo Järvi am 17. Mai 2020, bei dem ich ausnahmsweise in Begleitung war und noch ausnahmsweiser in der ersten Preiskategorie saß. Noblesse oblige: Immerhin handyfilmte man dort minimalinvasiv – gewissermaßen aus der Hüfte – und konsumierte stilles (!) Wasser statt Cola.