Chorstafette

Da ist dieses eine Mitglied des Hamburger Mendelssohnchors, eine ehemalige Kollegin, die mir seit Jahren hartnäckig immer wieder per Postkarte Informationen zu dessen Konzertprogramm weiterleitet. Bis vor kurzem leider ohne Erfolg. Peinlich genug, sind mir doch insgesamt drei Chormitglieder – darunter ein weiterer ehemaliger Kollege – und die Chorleiterin persönlich bekannt. Aber in diesem Jahr passte es endlich einmal; von den drei zur Auswahl stehenden Terminen allerdings nur der in der Paul-Gerhardt-Kirche. Wesentlich näher wäre die Kreuzkirche Alt-Barmbek gewesen, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für das Mitglied des Chors St. Johannis, welches mir vor Ort in Altona unverhofft über den Weg lief – wir wohnen nämlich beide in Barmbek Nord und kennen uns über einen Herrn, der beinahe mein Kollege geworden wäre.

Durch diese Begegnung kam ich in den Genuss eines weiteren Chorkonzerts, das gestern in St. Johannis-Harvestehude stattfand. Dort traf ich zufällig das eingangs erwähnte Mitglied des Mendelssohnchors, das spontan eine mir ebenfalls bekannte Freundin begleitete, die wiederum, man wird es mir kaum glauben, eine Karte für den Platz neben mir auf der Empore hatte.

Heute Morgen schließlich war das nämliche Mitglied des Mendelssohnchors meine Begleitung beim 1. Morgen Musik-Konzert „Fensterkreuz“ der Hamburger Symphoniker unter der Leitung von Sylvain Cambreling. Die Karten hatte ich ausnahmsweise nicht gekauft, sondern vor einigen Wochen über den Symphoniker-Newsletter gewonnen. Das Programm war außergewöhnlich – und außergewöhnlich chormusiklastig. Zu hören war die Europa Chor Akademie Görlitz, unter deren Gründer und Leiter Joshard Daus ich vor etlichen Jahren als kleinstes Licht im Chor des Lippstädter Musikvereins die „Schöpfung“ singen durfte.

Hattrick komplett, Kreis geschlossen. Fürs Erste zumindest.

Oh, und musikalisch? Die ganze Bandbreite. In Altona „Eine Winterreise zwischen Romantik und Pop“, in Harvestehude Duke Ellingtons „Sacred Concert“ (mit Big Band, einer sensationellen Steptanzeinlage und der noch sensationelleren Solistin Rita Maria) und zuletzt in der Laeiszhalle „Perlen der Chormusik“ von Mozart, Tschaikowsky, Szymanowski und Strawinsky, kontrastreich kombiniert mit Sufi-Gesang von Aïcha Redouane und dem Ensemble Al-Adwâr. Einige Konzertbesucher hatten hör- und sichtbar Schwierigkeiten mit den ungewohnteren Klängen des Programms, wobei die Grenze für manche offenbar gleich hinter den Mozartstücken lag. Innerlich seufzend erinnerte ich mich an ähnliche Reaktionen aus vergangenen Symphoniker-Konzerten. Da ist noch Luft nach oben – beim Publikum, wohlgemerkt, nicht etwa beim Orchester oder seinem Chefdirigenten. Das gilt, wie ich seit heute weiß, nicht nur für die von vorzugsweise durch Abonnenten belegten Plätze der Preisklassen 2 und 3 im 1. Rang, sondern auch für die Beletage im Parkett.

Wie dem auch sei, so viel Chormusik wie in den letzten Wochen habe ich seit Jahren nicht gehört. Und dabei gleich einiges gelernt, z. B. dass es von so unterschiedlichen Komponisten wie Duke Ellington und Peter I. Tschaikowsky Kirchenmusikwerke gibt. Schlagt mich, aber das war mir neu!

Das nächste Konzert ist wieder mit Klavier und Elektronik und ich weiß schon, welcher der üblichen Verdächtigen aus der örtlichen Neigungsgruppe neben mir sitzen wird. Langweilig wird es deshalb bestimmt nicht. Und wer weiß, vielleicht sitzt auf dem Platz auf der anderen Seite neben oder hinter mir der Beginn der nächsten Stafette durchs Hamburger Musikdorf.

In Concert: Abschied von Sir Jeffrey Tate

Eigentlich mache ich das nicht.

Wenn ich auf dem Lotsenschoner No. 5 Elbe als Crew eingeteilt bin, bin ich als Crew eingeteilt. Das heißt unter anderem: Mindestens zwei Stunden vor Abfahrt an Bord zu sein und nach dem Anlegemanöver gemeinsam aufzuklaren. Noch vor dem Anlegebier und ohne sich ordentlich zu verabschieden fluchtartig das Schiff zu verlassen, war nach etwas mehr als 11 Jahren Vereinszugehörigkeit ein Novum und soll auch die Ausnahme bleiben. Ebenso nach einem schweißtreibenden Segeltag ungeduscht und nur notdürftig zurechtgemacht mit der großen Tasche unterm Arm in neuer persönlicher Bestzeit für die Strecke Sandtorhafen – Johannes-Brahms-Platz die Laeiszhalle zu entern.

Wäre da nicht das Abschiedskonzert für Sir Jeffrey Tate gewesen.

Nach zwei Orchesterkonzerten des damals noch NDR Sinfonieorchesters auf Kampnagel trieb es mich im September 2014 erstmalig zu den Hamburger Symphonikern. Zunächst des Programmes wegen: „Die Planeten“ von Gustav Holst hatte ich zuvor schon in Auszügen gehört und war nun darauf erpicht, das Werk in seiner Gesamtheit genießen zu können. Ich buchte einen Platz vorne rechts im 1. Rang und erwarb dadurch einen ungeahnten Nebeneffekt: Man kann von dort zwar nicht das Orchester in seiner Gesamtheit, dafür aber dem Dirigenten ins Gesicht sehen.

Was man während eines Konzerts in Sir Jeffrey Tates Mienenspiel erkennen konnte, hat Daniel Kühnel in seiner Trauerrede heute Abend besser in Worte gefasst, als ich es zu tun vermag. Insbesondere dieses erste Konzert bleibt für mich unvergesslich: Ich überwand die mittelschwere Befremdung ob der damals für mich noch ungewohnten Konzertsaal-Atmosphäre und des jedes denkbare Klischee erfüllenden Abo-Publikums um mich herum und war vollkommen fasziniert. Knapp zwei Monate später war ich wieder vor Ort. Dann nochmal (der Holmboe! der Sibelius!). Und wieder. Schließlich auch bei den Philharmonikern und den Stummfilmkonzerten. Als nächstes entdeckte ich das Schleswig-Hostein Musik Festival und mittlerweile sind Symphonie- und andere Orchesterkonzerte aus meinem musikalischen Jahreskalender nicht mehr wegzudenken.

Bei meinem letzten Konzertbesuch in der Laeiszhalle hatte mich die anfängliche und in der Hauptsache umgebungsbedingte Befremdung zwar wieder eingeholt. Dieser Umstand schmälert indes weder meine Bewunderung noch meinen Respekt und erst recht nicht meine Dankbarkeit gegenüber einer herausragenden Künstlerpersönlichkeit.

Fair winds, Sir Jeffrey. See you on the other side.

In Concert: Gustavo Dudamel und das Orquesta Sinfónica Simón Bolívar in der Elbphilharmonie

Gustavo Dudamel und das Orquesta Sinfónica Simón Bolívar haben Beethoven durchgespielt, und zwar im Wortsinne: Unter der Überschrift „¡Viva Beethoven!“ standen in der Elbphilharmonie in den vergangenen fünf Tagen alle neun Sinfonien auf dem Programm.

Wem der Name Dudamel nichts sagen sollte, der möge sich doch kurz das folgende Video anschauen:

Gut, ganz so turbulent wie Leonard Bernsteins „Mambo“ war es dann doch nicht bei der Neunten. Aber südamerikanisches Feuer in Kombination mit Beethoven, holla, ich sage es euch. Da geht was! Sogar in Hamburg. Standing Ovations, Begeisterung, Jubel!

Gustavo Dudamel, das weiß ich nun also auch aus eigener Anschauung, ist ohne Frage eine Ausnahmeerscheinung. Und zwar eine mit Suchtpotential. Ich habe bisher noch keinen Dirigenten erlebt, der ohne Partitur auskommt, dessen Musikleidenschaft in einem solchen Ausmaß mitreißt und dessen Körpersprache derart im Einklang mit dem dirigierten Stück steht. Dudamel führt Musiker per Schulterzucken präziser und eindeutiger als andere mittels ausladender Armbewegungen. Selbst jemand ohne (klassische) Konzerterfahrung hätte diese Verbindung sehen und hören können.

Apropos hören können, es stimmt, was inzwischen allgemein Verbreitung gefunden hat: Auf den billigen Plätzen bekommt man den besten Elphi-Sound. Wobei es auch unterm Dach noch reichlich gläsern klingt, was ich weiterhin gewöhnungsbedürftig finde. Ein gewisser Herr, den ich einst besser kannte, würde vermutlich etwas in Richtung „untere Mitten… ausbaufähig“ gemurmelt haben. Aber geschenkt. Meine Ohren können da mit.

Die 16. Etage
Die 16. Etage

Das Programmheft hielt zu alledem noch eine Überraschung bereit, denn aus luftiger Höhe und nach mehr als 25 Jahren hätte ich ihn ansonsten wohl nicht erkannt: Neben Orchester, Dirigent und den vier Solisten trat der Chor der Europa Chor Akademie Görlitz an, gegründet und geleitet von Joshard Daus. Unter ihm habe ich auch schon einmal singen dürfen, damals, im Konzertchor des Städtischen Musikvereins in Lippstadt. Die „Schöpfung“ war’s. Und beinahe auch die „Carmina Burana“, hätte ich nicht damals unmittelbar vor Konzertbeginn ganz spontan mein Abendessen im hinteren Bereich der Bühne… aber so genau will das sicher niemand mehr wissen. Viel wichtiger ist eh die Frage, wie ich den „Freude, schöner Götterfunken“-Ohrwurm je wieder losbekommen soll.

¡Muchas Gracias, Maestro!