„Drei Engel für Charlie“? The Show must go on!

Irgendwas ist anders im Foyer des Großen Saals der Elbphilharmonie in dieser Woche. Einigen Treppengeländern sind plötzlich Leuchtstoffröhren gewachsen, seltsame Gerätschaften stehen herum, Bereiche sind abgesperrt, Menschen eilen durch die Menge, die absolut nicht nach Konzertpublikum aussehen. Des Rätsels Lösung: Hollywood goes Elphi – gedreht wird für das anstehende Reboot von „Drei Engel für Charlie“ im Kinoformat. Vermutlich eine äußerst lukrative Nebeneinnahme fürs Haus und warum auch nicht. Spektakulär genug ist es ja und wird als Filmlocation sicherlich so einige Begehrlichkeiten geweckt haben.

Währenddessen läuft der Konzertbetrieb unverdrossen weiter und ich war mal wieder mittendrin: Am Montag bei Pierre-Laurent Aimard, Tabea Zimmermann und Adam Walker unter dem Motto „Concord-Sonate – Schwerpunkt Charles Ives“ und gestern war es Ólafur Arnalds, der sein neues Album „Re:member“ vorstellte. Aber der Reihe nach.

Seit ich den Film „Pianomania“ gesehen hatte, wollte ich Pierre-Laurent Aimard spielen sehen und hören. Anlass der Konzertwahl war also der Künstler, nicht das Programm. Wobei mir Charles Ives, die Hauptperson des Abends, durchaus in Erinnerung geblieben ist, immerhin war sein Werk „The unanswered Question“ das allererste Musikstück, welches ich im Großen Saal hörte. Da in der „Concord-Sonate“, obwohl prinzipiell als Klavierstück konzipiert, optional je ein paar Takte Bratsche und Querflöte vorgesehen sind, wurde Aimard von Tabea Zimmermann und Adam Walker unterstützt. Es lag daher nahe, auch die „Sonate für Viola und Klavier op. 147“ von Dmitri Schostakowitsch ins Programm zu nehmen und beide Halbzeiten mit je einem Solostück für Querflöte beginnen zu lassen. Mit den Flötentönen von Edgard Varèse und Elliot Carter konnte ich wenig anfangen und für den Schostakowitsch fehlte mir aus unerfindlichen Gründen die Geduld – ja, ich weiß, nicht nett von mir, aber auch beim Zuhören gibt es so etwas wie Tagesform. Dafür zündete der Programmhöhepunkt umso gewaltiger. Charles Ives war Komponist im Nebenberuf, wirtschaftlich unabhängig und scherte sich weder um musikalische Konventionen noch um die Erwartungen des Publikums. Die Bezeichnung „unkonventionell“ ist zwar reichlich überstrapaziert und keinesfalls ein Qualitätsgarant. Auf die Musik von Charles Ives trifft sie hingegen ohne jegliche Abstriche zu. Das Programmheft wird der Komponist mit diesem Satz zitiert: „Warum die Tonalität als solche verworfen werden sollte, will mir nicht einleuchten. Warum sie immer herrschen sollte, auch nicht.“ Der Mann ist mir sympathisch! Seine „Concord-Sonate“ auch, und Pierre-Laurent Aimard mit ihr in seinem pianomanischen Element. Volle Punktzahl – so ungefähr hatte ich mir das vorgestellt.

Ólafur Arnalds live, ohne Kiasmos oder Nils Frahm, nur mit seiner Musik und dazu ausgesuchtem Ensemble, das ist lange her. Das war zuletzt im September 2015, mit Alice Sara Ott und dem „Chopin Project“ im kleinen Saal des Laeiszhalle. Schon damals hatte sich Arnalds nicht auf das Chopin-Programm beschränkt und es durch ältere Stücke ergänzt. So auch bei der Vorstellung von „Re:member“. Ich erkannte zweimal „Broadchurch“, zweimal „Living Room Songs“ und ein Stück aus „The Chopin Project“; alles, was mich zielsicher durch Zeit und Raum zu katapultieren vermag, war dabei. Bei „Beth’s Theme“ habe ich vom ersten Ton an die Gesichter von David Tennant, Olivia Colman und Jodie Whittaker vor der eindrucksvollen Jurassic Coast vor Augen und „Near Light“ befördert mich nach all der Zeit immer noch in Sekundenbruchteilen ins Berlin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts.

Hauptattraktion sowohl des Konzerts als auch des Albums „Re:member“ sind die beiden digital-mechanischen Klaviere, die zu Recht einen prominenten Platz auf der Bühne erhielten.

Die Kurzfassung des Videos, in Anlehnung an des Künstlers Twitterbiographie (per Stand Oktober 2018): „His pianos go bleep bloop“. Das klingt nicht nur zauberhaft, es ist auch ein faszinierender Anblick; insbesondere weil die Klaviere deutlich zeitverzögert auf Arnalds‘ Input reagieren. Wie ein stets neu variiertes Echo.

Apropos Echo, ich habe bisher im Großen Saal der Elbphilharmonie selten ein (mehrheitlich) derart auf Bühne und Musik konzentriertes Publikum erlebt. Nach der Zugabe „Lag Fyrir Ömmu“ hätte man sekundenlang die buchstäbliche Stecknadel fallen hören können. Der Applaus (Standing Ovations!) setzte erst ein, nachdem sich Ólafur Arnalds aus seiner musikalischen Versunkenheit, die noch eine ganze Weile nach dem Verklingen des letzten Tons angehalten hatte, regte. Das wünschte ich mir für alle Veranstaltungen in diesem Raum.

Auf der Webseite der Elbphilharmonie ist dazu mittlerweile ein sehr hilfreicher Text veröffentlicht worden, auf den man als Konzertbesucher sogar per E-Mail hingewiesen wird (zumindest wenn es sich um eine Veranstaltung der HamburgMusik gGmbH handelt und man die Karten direkt im Webshop gekauft hat). Es scheinen ihn aber bedauerlicherweise immer noch nicht genügend Menschen gelesen zu haben – von Beachten ganz zu schweigen.

Die lange Elphi-Nacht

Was hatte ich nicht alles versucht, um an Karten für die Eröffnungskonzerte zu kommen. Ich baute für NDR Info eine Elphi aus alten Seekarten (was mir immerhin einen hübschen Trostpreis einbrachte), ich reichte ein Geräusch für den Sounddown ein; ich nahm praktisch an jedem verfügbaren Gewinnspiel teil, in dessen Ausschreibung das Wort „Elbphilharmonie“ vorkam. Vergebliche Liebesmüh!

Seekarten-Elphi
Seekarten-Elphi

So musste ich also auf den ersten Termin warten, für den ich bereits im Sommer letzten Jahres nach dem Start des regulären Vorverkaufs eine Karte ergattert hatte: Ein Konzert aus der Reihe „Into Iceland“ mit dem isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson und dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Esa-Pekka Salonen. Der Zufall wollte, das später noch das NDR Kultur Neo Klubkonzert mit Jóhann Jóhannsson und Ensemble hinzukam. Macht zwei Konzerte an einem Tag, 20 Uhr und 23:45 Uhr. Was für ein Einstand!

Zur Einführung, eine Stunde vor Beginn des ersten Konzerts, betrat ich zum ersten Mal den Aufgang zum Großen Saal. Man hatte mich bereits gewarnt, dass die Treppen nicht ganz ohne sind. Das muss ich leider voll unterschreiben. Es geht die Mähr, der Architekt höchstselbst sei schon über seine eigenen Stufen gefallen. Seh- und gehbehinderten sowie motorisch anderweitig eingeschränkten Personen empfehle ich die Nutzung des Fahrstuhls. Die Orientierung in den Foyers ist die zweite kleine Herausforderung. Eine wichtige, aber nicht augenfällige Information ist beispielsweise, dass es zwar auf jeder Ebene Toiletten und Bars gibt, aber nur eine Garderobe, und zwar auf der No. 11.

Nach Überwindung dieser Hürden führte mich schließlich ein langer Schlauchgang ins Herz der Elbphilharmonie, zu meinem Platz auf Ebene 13, Bereich G, Reihe 3. Diesen hatte ich mit Bedacht gewählt: Man sitzt zwar nahe am, aber hinter dem Orchester. Dort angekommen musste ich erst einmal gucken. Und staunen.

Eindeutig ein Fall von Liebe auf den ersten Blick: Saalaufteilung und Sitzanordnung überzeugten mich sofort. Es ist ein großer und gleichzeitig sehr intimer Raum – dieses Kunststück muss man erst einmal schaffen. Die „weiße Haut“ entpuppte sich als gräulich-gesprenkelt und keinesfalls so steril, wie befürchtet, Holzfußböden und Beleuchtung taten das Übrige dazu. Ich testete verschiedene Blickwinkel auf mehreren Ebenen und war mir bald sicher: Zumindest gut sehen kann man von ausnahmslos jedem Platz, es sei denn, man hat in den ersten Reihen des Parketts das undankbare Los gezogen, Hintermann eines (Sitz-)Riesen zu sein. Ein Applaus auch demjenigen, der die Sitzpolster ausgewählt hat! Ganz hervorragend.

Zurück zur eigentlichen Veranstaltung.

Dass die Bühne sich in der Mitte des Raumes befindet, ist offenbar noch nicht bei allen Beteiligten angekommen. Die Einführung war von der Ansprache her ausschließlich auf die Parkettseite ausgerichtet. Ein Manko, das sich leicht beheben lässt: einfach zwischendurch mal umdrehen. Think Sportarena, not Konzertsaal! Dann klappt es auch mit der Aufmerksamkeit. Wobei diese zugegebenermaßen schwer zu Erringen war. Es sind dieser Tage einfach noch zu viele Erstbesucher im Raum, denen Schauen (und Knipsen) wichtiger ist, als ein paar zudem etwas fahrig wirkenden Sätzen zu Igor Strawinskys „Feuervogel“ zu lauschen.

Das eigentliche Konzert begann mit „The Unanswered Question (Two Contemplations Nr. 1)“ von Charles Ives. Das Stück ist für drei Instrumentengruppen komponiert: Streicherensemble, Solotrompeter und ein Quartett aus Holzbläsern. Diese repräsentieren „Das Schweigen der Druiden“, „Die ewige Frage nach der Existenz“ und „Die (Möchtegern-)Antwortgeber“ (freie Eigenübersetzung). Kein ganz fairer Akustiktest, denn die Gruppen dürfen sich gegenseitig nicht sehen und die bedauernswerten Streicher müssen gar im Off spielen. Das Holzblasquartett saß auf der Bühne und den Standort des Trompeters konnte ich nicht ausmachen – vermutlich war er irgendwo über und hinter mir platziert. Die erste Auffälligkeit: Sobald die Holzbläser zum Einsatz kamen, hörte ich nur noch diese. Mir fehlt zwar der Vergleichsmaßstab, aber dass das in dieser Deutlichkeit zum Plan des Stücks gehört, wage ich zu bezweifeln.

Dieser Eindruck bestätigte sich bei den beiden folgenden Stücken, „Aerialty“ von Anna Thorvaldsdottir und insbesondere dem Klavierkonzert No. 2 von Haukur Tómasson (beide Komponisten waren anwesend). Der Konzertflügel stand von meinem Platz aus gesehen ganz am anderen Ende der Bühne, ich blickte auf die falsche Seite des aufgeklappten Deckels und hörte: nahezu nichts. Bei geschlossenen Augen und ohne die Kenntnis des Programms wäre ich nicht zwingend auf die Idee gekommen, dass es sich um ein Klavierkonzert handelt. Dafür waren die Hörner ganz hervorragend vernehmbar – als Einzelstimme, nicht als Teil des Orchesters. Direkt vor mir saßen die Schlagwerker und die äußerste Vorsicht, mit der sie mit ihren Gerätschaften hantierten, sprach Bände. Wahrscheinlich gibt es auf der Welt momentan keinen Konzertsaal, in dem Triangeln und Tamburine derart behutsam aufgenommen und abgelegt werden. So viele Einzeltöne; was davon war Nebengeräusch, was gehörte zum Stück? Über ganze Strecken sah ich vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr, denn wirklich alles, was auf der Bühne vor sich geht, ist gestochen scharf hörbar. Selbst das Umblättern einer Partitur sollte besser nicht allzu forsch ausfallen.

Víkingur Ólafsson – über dessen Spiel ich leider nicht viel sagen kann – gab im Anschluss eine kleine Zugabe, bei der bewiesen wurde, dass das auch für die Publikumsränge gilt. Eine Dame kam, mutmaßlich nach außerplanmäßigem Boxenstopp, während sehr leiser Töne die Treppe heruntergepoltert. Was sicher nicht in ihrer Absicht lag. Man kann einfach nicht leise gehen in diesem Raum. Es ist eine Überlegung wert, hier das Planetariumsprinzip anzuwenden: Wer vorzeitig rausgeht, darf nicht vor der Pause wieder rein. Oder muss wenigstens eine Spielpause zwischen zwei Stücken abwarten und dann fix genug sein, um nicht den Zorn des gesamten Saals auf sich zu ziehen.

Beim „Feuervogel“ von Igor Strawinksy relativierte sich das Bild. Da hatte ich zum ersten Mal für die Dauer eines Stücks den Eindruck, einem Orchester als Gesamtheit zuzuhören. Zwar waren auch hier die Instrumentengruppen deutlicher vernehmbar, die sich im hinteren Bereich der Bühne befanden. Aber warum nicht einmal die Bläser so hören, wie sonst immer die Streicher, nämlich in den Vordergrund verschoben? Das war zwar ein wenig gewöhnungsbedürftig, tat dem Hörgenuss als Ganzem aber wenig Abbruch.

Beim zweiten Konzert mit Jóhann Jóhannsson und Ensemble saß ich auf der anderen Seite des Raums im Parkett, zweite Reihe. Von einem unverhältnismäßig lautem Gebläsegeräusch abgesehen, war der Sound dort optimal – es war überhaupt ganz wundervoll, genau mein Gift! Der klangliche Vergleich hinkt allerdings, denn hier kamen Verstärker zum Einsatz.

Mein vorläufiges Urteil zur Elphi-Akustik? Für manches sehr gut, für einiges, darunter auch Ungeplantes und Unfreiwilliges, zu gut und leider, leider nicht auf allen Plätzen gleich gut. Ich gehe unter anderem deshalb zu Konzerten, weil ich dort etwas erleben möchte, was einzigartig ist: an diesem Tag, zu dieser Stunde, von diesen Musikern, in diesem Raum. Musik anders zu hören, als es durch eine Studioaufnahme vorgegeben ist, gehört zu meiner Hauptmotivation. An der Hinterseite des Großen Saals der Elbphilharmonie wurde diese gewissermaßen übererfüllt – ein klassischer Fall von Zuviel des Guten. Mindestens bei Klavierkonzerten sitze ich künftig vor der Bühne. Oder ganz woanders.

Möglicherweise ist der horizontale Standort aber auch weniger relevant, wenn man in die Vertikale geht und sich so räumlich weiter vom Orchester entfernt. Das werde ich bald herausfinden: Im März steht Beethovens Neunte auf dem Programm. Ganz oben, auf den billigen Plätzen.