Bugge Wesseltoft war einer der ersten, die mich auf die Idee brachten, dass weniger deutlich mehr sein kann beim Klavierspiel. Seine ebenso leise wie sparsame, aber effektvolle Variation über „In Dulce Jubilo“ und „Det kimer nå til julefest“ auf der CD „Christmas with my friends“ führte mich zu „It’s snowing on my piano“; beide begleiten nun seit beinahe zehn Jahren meine Vorweihnachtszeit.
Genau zwanzig Jahre nach „It’s snowing on my piano“ hat Bugge Wesseltoft nun ein zweites Soloalbum aufgenommen: „Everybody loves angels“ führt die Idee fort, gewissermaßen als Ganzjahresversion. Gestern Abend waren Stücke aus beiden Alben in der Kulturkirche Altona zu hören und man hätte sich in Hamburg kaum einen geeigneteren Ort dafür ausdenken können.
Noch besser als der Michel vor drei Jahren und erst recht das Mehr! Theater am Großmarkt im letzten Jahr hätte die Kulturkirche Altona wohl auch zu Nils Landgren und seinen Freunden gepasst, aber das Projekt ist dafür leider inzwischen einige Nummern zu groß. Was mich wieder auf den Grundsatz „Weniger ist mehr“ zurückbringt.
Vermutlich ließe es sich statistisch belegen: je dunkler die Tage und länger die Nächte, desto größer die Soloklavieralbum-Hörwahrscheinlichkeit. Neben Bugge Wesseltofts Schneeflocken ist im Laufe der Jahre unter anderem Musik von Chilly Gonzales, Nils Frahm und Martin Kohlstedt hinzugekommen. Vor kurzem wurde ein Chilly Gonzales-Konzert in der Laeiszhalle angekündigt, Termin: 11. 12. 2018. Glücklicherweise werde ich auf die anderen beiden Herren nicht so lange warten müssen.
Zum Elbjazz-Festival kam ich sehr spät – nämlich erst 2014 – und sehr spontan. So spontan, dass zunächst keine Gelegenheit blieb, sich vorab mit dem Programm zu beschäftigen. Ohnehin stand der Jazz als Genre zu dieser Zeit auf meiner Liste nicht sehr weit oben. Ich ließ mich also mitziehen, ganz ohne Erwartung, und wurde positiv überrascht. Entsprechend angefixt war ich im Jahr darauf wieder dabei. Ich erinnere zahlreiche Highlights aus dem Programm, scheiterte aber – abgesehen vom Wetter, für das keiner etwas kann – an einer überambitionierten „Möchte ich unbedingt sehen“-Wunschliste in Kombination mit dem zeitweise stockenden Barkassen- und Busshuttle zwischen den verstreuten Veranstaltungsorten. Insbesondere das Hafenmuseum erwies sich als Sackgasse; effektives Pendeln zum Werftgelände von Blohm+Voss und retour war praktisch unmöglich.
Für den diesjährigen Neustart nach der Festivalpause nahm ich mir daher vor, größere Zeitpuffer einzubauen, bevorzugt shuttleunabhängige Transfermöglichkeiten zu nutzen, mich am Hallenprogramm (und nicht an den Headlinern) zu orientieren und im Zweifel konsequent vom vorgefassten Plan abzuweichen – alles unter dem Motto „Weniger ist mehr“.
Tag eins
Ich startete am Freitagabend mit Beady Belle & Bugge Wesseltoft. Der Mann an den Tasten hielt sich vornehm zurück, was in der vorliegenden Konstellation zwar nachvollziehbar, für mich jedoch ein wenig enttäuschend war. Nichts gegen die Dame – phantastische Stimme! -, nur trafen die Songs nicht ganz meinen Geschmack. Aber dann kam Joshua Redman für ein Stück mit auf die Bühne. Highlight-Alarm! Ich schmiss auf der Stelle meine Planung um, um ihn eine Stunde später mit seinem Trio an gleicher Stelle erleben zu können. Eine sehr gute Entscheidung.
Eingedenk der Wegstrecke entschied ich mich anschließend, Richtung St. Katharinen aufzubrechen, um dort noch rechtzeitig zum Konzert von ALA.NI einzutreffen – gewissermaßen die Zwischenstation vor dem fest reservierten Mitternachtstermin in der Elbphilharmonie. Es half dabei sehr, gut zu Fuß und obendrein ortskundig zu sein. Über die Künstlerin wusste ich nichts und der Billie Holiday-Vergleich in der Ankündigung hatte bei mir reflexartig Skepsis ausgelöst. Im Falle von ALA.NI komplett unnötig. Diese Stimme vergisst man nicht so leicht – Gänsehaut pur! Die Akustik des Kirchenschiffs tat das Übrige hinzu, überhaupt, St. Katharinen! „Klug, mutig, schön“ – eine traumhafte Location. Was mich ein wenig abgelenkt hat, war das kleinmädchenhafte Gehabe der Dame. Das nervt mich tendenziell, bei solchen Gelegenheiten frage ich mich immer: Ist das Masche, gehört das zur Marke oder ist die wirklich so?
Aber dann stimmte sie auch schon den nächsten Song an und das ganze Drumherum wurde ganz und gar nebensächlich.
Der Weg von St. Katharinen zur Elbphilharmonie ist kurz und so hatte ich genügend Muße, mich zum Abschluss des ersten Festivaltages auf mein mittlerweile siebtes Konzert im Großen Saal einzustimmen.
Dass die Elphi-Konzerte des Elbjazz nur über Vorreservierung zugänglich waren, ist einerseits verständlich, widerspricht aber auf der anderen Seite dem Grundgedanken des Festivals. Die Tickets gab es nur über den sehr rechtzeitig zu tätigenden Vorverkauf, man musste sich weit vor Termin festlegen und viele der angekündigten Künstler traten ausschließlich dort auf. Ich hatte mich also im Vorfeld nicht nur für Christoph Spangenberg entscheiden müssen, sondern auch gegen Jan Garbarek. Immerhin, als „Early Bird“-Ticketkäuferin konnte ich alle Optionen nutzen und hatte dann auch noch Losglück bei der Platzverteilung: Bereich 13 I bedeutet noch nicht hinter, sondern seitlich von der Bühne und ziemlich nahe dran zu sitzen.
Spangenberg spielt Nirvana – nicht der erste Programmpunkt, bei dem man sich fragen kann: Was hat das mit Jazz zu tun? Wobei es letztlich auf das musikalische Ergebnis ankommt, unabhängig davon, ob es sich um originäre Jazzstücke oder -standards handelt oder eben nicht. Spangenbergs Interpretationen hingen an der Grenze, aber doch, es passte schon. Von mir aus hätten sie im Schnitt noch ein bis zwei Stufen dreckiger sein können. Vielleicht war die relative Zuckrigkeit doch der Tatsache geschuldet, dass Spangenberg im Gründungsjahr von Nirvana (1989) gerade ein Jahr alt war und sich den Grunge gewissermaßen nachträglich erarbeiten musste. Der besonderen Atmosphäre des Konzerts zur Geisterstunde tat das keinen Abbruch. Im Gegenteil.
Dazu kam das surreale Element. Als das Nirvana-Album „Nevermind“ in den Charts stand, war ich kurz vorm Abitur. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich 26 Jahre später im Großen Saal einer nach allen Regeln der Kunst neu erbauten Hamburger Philharmonie sitzen und diesen Songs in einer Version für Konzertflügel lauschen würde, ich hätte wohl ohne Umschweife mit „Was hast Du denn geraucht?!“ gekontert.
Tag zwei
Ich schaffte es gerade rechtzeitig zurück aufs Gelände, um noch ein halbes Stündchen der Band Mörk zuhören zu können. Sehr dynamisch, aber hier bleibe ich streng: Mit Jazz hatte das wenig gemein. Wie übrigens abends zuvor auch die Musik von Agnes Obel, deren Auftritt auf der Hauptbühne ich zugunsten von ALA.NI ausgelassen hatte.
Beim zweiten Konzert des Tages hatte ich mich glücklicherweise an der Elbjazz-App orientiert: Der einstündige Auftritt von Vincent Peirani & Émile Parisien auf der neuen NDR Info Radio Stage wurde zwar sowohl dort als auch auf der Webseite angepriesen, war aber nicht im Programmheft abgedruckt. Aus dem Bauch heraus entschied ich, mir bereits vierzig Minuten vor Beginn einen Sitzplatz zu sichern. Keine dumme Idee, wie sich bereits rund zwanzig Minuten später herausstellte. Und was für ein sensationeller Auftritt war das! Vincent Peirani am Akkordeon und Émile Parisien am Sopransaxophon demonstrierten eindrucksvoll mit Witz und Können, dass miteinander zu musizieren im Idealfall eine ausnehmend intensive Kommunikationsform darstellt. Insbesondere Parisien zeigte dabei vollen Körpereinsatz. Mein persönlicher Elbjazz-Höhepunkt.
In der Schiffbauhalle 3 wurde nebenbei bewiesen, dass man nicht nur bei klassischen Stücken an den falschen Stellen klatschen kann. Eine kleine Herausforderung für die Radiocrew, denn ein Großteil der Interaktion zwischen Künstlern und Publikum an diesen Stellen kommt im Mitschnitt naturgemäß unter die Räder.
Mein nächstes Ziel war der Auftritt von Dhafer Youssef in der Alten Maschinenbauhalle. Auch hier sicherte ich mir sehr rechtzeitig einen guten Stehplatz nahe der Bühne, denn leider war dort für den Festivalsamstag die Bestuhlung abgebaut worden. Stilistisch kam ich zwar nicht ganz mit, aber der Gesang! Beeindruckend.
Blieb nur noch eine halbe Stunde bis zum Konzert von Greogry Porter & Band auf der Hauptbühne. Der Headliner bekam anders als die übrigen Künstler einen anderthalbstündigen Slot ganz am Ende des zweiten Festivaltags – zu Recht. Das ist schon amtlich, was der Mann da abliefert. Unterstützt wurde Porter vom Kaiser Quartett, welches ich aus der Ferne allerdings kaum hören konnte. Überhaupt schien der Sound gedrosselt zu sein. Von den seitlichen Rändern der Bühne aus war der Auftritt akustisch so gut wie nicht zu verfolgen, ganz anders als noch bei Mörk am Nachmittag. Aufgrund des Gedränges im Vordergrund sicherte ich mir einen halbwegs akzeptablen Hörplatz in einem der NDR Info-Liegestühle, um mich dann knapp vor Konzertende aus dem Staub zu machen, dem Massenaufbruch erfolgreich zuvorkommend. Ich hätte noch Lust gehabt, zu Mousse T. in den Mojo Club zu gehen, aber der tote Punkt erwischte mich auf halber Strecke zwischen dem alten Elbtunnel und der Reeperbahn.
Prädikat unterm Strich: Gelungene Wiederaufnahme! Diesmal spielte sogar der Himmel mit. Wenn nichts dazwischenkommt, bin ich 2018 wieder dabei.
Einen Wunsch habe ich fürs nächste Mal: Früher war mehr Klavier beim Elbjazz. Da geht doch sicher noch was – looking at you, Karsten Jahnke!