Letztes Jahr schrieb ich an dieser Stelle über meine barcamp Hamburg-Premiere. Streng genommen war das verfrüht. Die wirkliche Premiere habe ich erst jetzt bei meiner zweiten Teilnahme gefeiert, denn wer das Motto „Barcamp ist, was Du daraus machst“ ernst nimmt, konsumiert nicht nur Veranstaltungen, sondern bietet auch welche an.
Die Idee zur „Seemannsknoten“-Session kam mir zwar schon während des letzten Barcamps, aber erstens hatte ich da spontan kein Kursmaterial zur Hand und zweitens fehlte mir schlicht die Traute. Damals hatten mich die Neugier und die Suche nach Inspiration für meine zu dieser Zeit gerade erst anlaufende Jobsuche in die Räume der otto group geführt. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, mich nach zwölf Jahren Abstinenz auf das Szenario „Vorstellungsgespräch“ vorzubereiten, als dass ich in Erwägung gezogen hätte, mich vor das Barcamp-Plenum ans Mikro zu bewegen und eine Session vorzuschlagen.
Tatsächlich war genau das auch das Schwierigste an der gesamten Sache: Sich vor so vielen Leuten hinzustellen und mich bzw. mein Thema zu verkaufen. Die Ungeübte kostet das nicht wenig Überwindung. Aber da hilft nur eins, nämlich hingehen und machen. Und siehe da: Während mir am Freitag noch reichlich mulmig war, fand ich es am Samstag gar nicht mehr so schlimm. In der Session selbst durfte ich dann meine ansonsten eher selten genutzten pädagogischen Fähigkeiten erproben. Auch dafür ist ein Barcamp der perfekte Ort: Die Teilnehmer sind mehrheitlich für (fast) alles offen, kommunikativ und erwarten zwar durchaus einen gewissen Standard, verzeihen aber in der Regel, wenn nicht alles perfekt läuft. Das ist teilweise auch der Spontaneität geschuldet, mit der manche Themen angeboten werden und trägt darüber hinaus nicht wenig zum Reiz des Formats bei.
Einen Nachteil hat es allerdings, wenn man selbst einen Slot im Sessionplan belegt: Man verpasst noch mehr interessante Veranstaltungen als sowieso schon. Wie verhext erscheint einem das Board, wenn man dort gleich drei, vier parallele Knüller entdeckt, zeitlich davor oder dahinter dafür aber Flaute herrscht.
Einiges konnte ich dennoch mitnehmen, unter anderem „Bauch vs. Kopf – gute Entscheidungen“ mit Christine Flaßbeck, „Skat“ (da war ich leider nicht mehr so richtig aufnahmefähig, aber etwas ist immerhin hängengeblieben), „All your money belongs to me“ (über die Sicherheit bzw. Unsicherheit von Bezahl-Apps), „The Work“ mit Peri Soylu und „Tanzen mit dem Zebra“ (Française nämlich). Außerdem hatte ich ein Oculus Rift vor den Augen und bin immer noch schwer beeindruckt. Mit Gaming habe ich es ansonsten überhaupt nicht, aber so ein Ding könnte mich glatt dazu kriegen. Zumal es neben der Spielerei auch noch so lustige Dinge wie „Google Earth VR“ und „Spheres“ gibt.
Ein Abzug in der B-Note sei doch erwähnt: Während wir in den Sessions saßen, führte eine getwitterte Anmerkung zur Barcamp-Verpflegung zu einem mittelschweren Handgemenge in den Timelines. Unabhängig davon, wer sich da warum und in welchem Ausmaß daneben benommen hat, stört mich an der auch außerhalb des virtuellen Raums zunehmend kontrovers geführten Diskussion um Ernährungsvorlieben hauptsächlich eines: die ideologisch verhärteten Fronten. An sich müsste man im nächsten Jahr dazu eine Session abhalten. Allein, mir geht es bei dem Thema ähnlich wie Herrn Buddenbohm mit der gewaltfreien Kommunikation, weswegen ich mich als Diskussionsleiterin leider nicht zur Verfügung stellen kann.
Im Wesentlichen waren es drei Fehlinformationen, die mich bisher davon abgehalten hatten, am barcamp Hamburg teilzunehmen:
Wer nicht wenigstens bloggt, zählt nicht zur digitalen Szene und hat somit auf einem Barcamp nichts zu suchen.
Es geht dort ausschließlich ums (Internet-)Business, entsprechend gestalteten sich Publikum, Programm und Interessen.
Wer anwesend ist, muss auch zwingend eine Session abhalten oder zumindest anbieten.
Tatsächlich reichen eine gute Portion Neugier sowie Lust auf Input und Interaktion völlig aus. Internetaffinität, Social Media-Präsenz und/oder ein eigenes Blog helfen, keine Frage. Aber nicht notwendigerweise als Voraussetzung für die Teilnahme, sondern vielmehr als Kommunikationsmittel; sei es zur Fortsetzung des Informations- und Ideenaustauschs über die Sessions hinaus oder generell zum Vernetzen.
Eine Barcamp-Grundregel ist: Es gibt keine feste Tagesordnung und keine festen Sprecher. Die Themen ergeben sich aus den Ideen und Vorschlägen der Teilnehmer und entsprechend spontan wird vor Ort und unmittelbar vor Beginn der Sessions das Tagesprogramm zusammengestellt.
Die Sessionplanung hatte ich mir als zeitrahmensprengendes Chaos vorgestellt. Eine weitere Fehleinschätzung – das genaue Gegenteil trat ein. Fein gesittet in Reih und Glied wurden Vorschläge unterbreitet, eine kurze Bedarfsanalyse mittels Handzeichen durchgeführt und zack, gebongt, der Nächste bitte. Ein buntes Spektrum tat sich dabei auf: Vom digitalen Nachlass über Geigenbau, Finanzen für Freelancer, Kinderbücher, Typo 3, Agilität, Marktforschung für Beginner, die Auswahl des richtigen Kondoms, Loslassen lernen, ADHS, digitales Geld, einer Werkstatt für Potentiale, Bürgerbeteiligung, B2B-Marketing, Community und Social Media Management bis hin zu Godzilla, den Serienjunkies und Renes Torten- und Brotgeheimnissen.
Das Board abzufotografieren und auf dieser Grundlage die eigene Agenda zu planen, ist zwar grundsätzlich eine gute Idee. Regelmäßige Gegenchecks sind dennoch ratsam, da sich auch im Laufe des Tages noch kurzfristig Änderungen ergeben können. Ein weiteres Handicap: Viele interessante Themen werden parallel präsentiert. Bei der Bewältigung dieses Dilemmas hilft das Festival-Prinzip: Entscheidungen treffen, eine grobe Reihenfolge festlegen, Laufwege, Verpflegungs-, Plauder- und Boxenstopps mit einrechnen und den so erstellten Fahrplan im Zweifel konsequent über Bord werfen.
Tag 1
Zur Barcamp- kam gleich zu Anfang eine weitere Premiere: Ich habe einen YouTuber kennengelernt! Zunächst frontal in der Session „Online-Identität ‚Tom Tastisch'“ und später auch im persönlichen Gespräch.
Thomas Lerche alias Tom Tastisch ist seit fast einem Jahr und noch bis zum 12. Dezember jeden Morgen ab 6:00 Uhr zwanzig Minuten lang auf Sendung. Ziel der Morgenroutine und des täglichen, auf YouTube bereitgestellten Siebenminutenzusammenschnitts: Optimismus trainieren. Bei der Session ging es sowohl um organisatorische Fragen als auch um die Abgrenzung zwischen dem Positivstarter Tom als Online-Identität und der reflektierteren, „echten“ Person dahinter, die wie jeder andere Mensch gelegentlich auch mal mit dem falschen Fuß aufsteht.
Ania Groß kenne ich schon eine ganze Weile, aber der Begriff „Sketchnotes“ war für mich bisher nicht viel mehr als ein Buzzword.
Mitgenommen habe ich aus ihrer Session, dass man zum Erstellen einer Sketchnote nicht zwingend zeichnen können muss, sondern es im Kern darum geht, Text auszuzeichnen und mittels graphischer Elemente so zu gliedern, dass Schlüsselsätze und -begriffe als solche erkennbar sind.
In der Runde „Plädoyer für mehr Anständigkeit in Social Media und Community Management“ von Vivian Pein stellte ich schnell fest, dass mir viele der beschriebenen Verhaltensweisen und Reaktionsstrategien bereits aus eigener Berufserfahrung bekannt waren. Unterm Strich ist es unerheblich, ob es um den aufgebrachten Kunden an der Ladentheke oder am Telefon, verbal entgleiste E-Mails, einen Kommentar-Shitstorm bei Facebook, Forumstrolle oder Twitterpöbeleien geht: Einfühlungsvermögen, Kommunikation auf Augenhöhe, Souveränität, Humor, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit, im Zweifel aber auch die konsequente Anwendung eines entsprechend gestalteten Regelwerks helfen nicht nur bei der Bewältigung der konkreten Situation. Idealerweise erfüllen sie zudem eine Vorbildfunktion, auch über die digitale Welt hinaus: Nicht nur das Netz (oder das Barcamp) ist, was wir daraus machen.
Bei der Sessionplanung flogen verschiedene Schlagwörter durch den Raum, von denen ich zuvor nie gehört hatte. Dazu gehörten auch Scrum und Agilität. Ein Grund, um sich in die Session von Madita Althusmann zu begeben. Scrum, so verstand ich daraus, ist eine Möglichkeit, agiles Arbeiten in (Software-)Unternehmen zu gestalten. Im Gegensatz zur klassischen Struktur („Waterfall“) gibt es bei einem Projektablauf nach der Scrum-Methode keinen Hauptverantwortlichen. Das Team organisiert unter Aufsicht eines Spielleiters („Scrum Master“) sowohl die Arbeitsschritte als auch die Aufteilung derselben in Eigenregie, der Projektfortschritt wird nicht in großen Planungsphasen, sondern in kurzen Termineinheiten („Sprints“) gedacht und am Ende eines jeden Sprints muss ein vorzeigbares Produkt stehen.
Schon aus der Diskussion im Anschluss an den Vortrag war zu erkennen, dass – wie bei nahezu jeder Ausprägung von Methodik – die reine Lehre oft nicht realitätstauglich ist. Vorhandene Unternehmensstrukturen, unter Umständen zu Recht bewährte Prozesse und die Vielschichtigkeit mancher Aufgabenstellung machen eine Anpassung in vielen Fällen unumgänglich. Beinahe unvermeidlicherweise fiel dabei der Satz „Dann lebt ihr das vielleicht noch nicht.“ Was allerspätestens der Moment ist, an dem ich mich an der Grenze zum Reich der Fitnessgurus und Heilsversprecher wähne und höchst skeptisch werde. Ein ostwestfälisch-norddeutscher Reflex, zugegeben.
Bei einem Gespräch am nächsten Tag ergab sich die Gelegenheit, den Faden nochmals aufzunehmen. Ist ein selbst organisierter (Abenteuer-)Urlaub im Sinne der Definition agil, verglichen mit der Pauschalreise? Geht es dabei letztlich nicht doch mehr um die Denkweise als um die Methode? So oder so: Es lohnt sich, dem Thema ein paar Überlegungen zu widmen.
Als der Natur der Sache gemäß wesentlich handfester erwiesen sich Rene Sasses Brot- und Tortengeheimnisse. Manche Tricks, so hat jeder wohl beim Kochen und Backen schon festgestellt, sind nicht nur äußerst hilfreich, sondern spielentscheidend für ein zufriedenstellendes Ergebnis. Viele davon werden jedoch in Rezepten nicht mitgeliefert, sondern fallen unter die Rubrik Erfahrungswerte. Dazu zählt, dass ein Backofen, der nicht ordentlich heiß wird, keine hübschen Brötchen liefert.
Oder dass – nach Renes Mutti – eine Torte keine ist, wenn in ihr nicht wenigstens 1,5 Liter Konditorsahne verarbeitet sind. Nach dieser Anregung werde ich zumindest das Projekt Brötchen in nächster Zeit mal in Angriff nehmen.
Tag 2
Geigenbauerin Anne Pelz führte zu Beginn des zweiten Tages in die Geheimnisse ihrer Zunft ein. Dabei lernten wir, dass die Schnecke auch die Form eines Eselskopfes annehmen kann, welcher Teil der Geige als Stimme bezeichnet wird und wie die Wölbung bei Decke und Boden des Instruments entsteht.
Nämlich nicht durch Formen des Holzes, sondern durch schlichtes Abhobeln. Unter anderem mit diesem Werkzeug.
Wir erfuhren außerdem einiges über das Berufsbild des Geigenbauers, die Beziehung mancher Geigenbesitzer zu ihrem Instrument und was eine Stradivari so besonders macht.
In der zweiten Session des Tages berichtete Gianna Krolla von elbkind über den medialen Siegeszug der Ritter Sport Einhornschokolade. Die Idee für die limitierte Sorte entstand aus einer Trendbeobachtung bei den eingereichten Sortenkreation-Vorschlägen, die sich zudem in den diversen im Netz verbreiteten Fake-Sorten manifestierte.
Kurz nach dem Launch am Tag des Einhorns 2016 verbreitete sich die Nachricht von der neuen Sorte wie ein Lauffeuer, innerhalb wie außerhalb des Netzes. Obwohl der Ritter Sport-Webshop wenig später unter der Flut der Kaufwilligen zusammenbrach, hat die Marke unterm Strich von der Kampagne profitiert. Wobei das Ziel von Anfang an nicht eine konkrete Umsatzsteigerung war, sondern die Ansprache neuer Zielgruppen in einem weitgehend gesättigten Markt.
Zum Frühling nächsten Jahres, so kündigte uns Gianna an, wird Ritter Sport eine neue limitierte Sorte präsentieren. Das Einhorn ist derweil medienwirksam zurückgetreten.
Wer es noch nicht mitbekommen haben sollte: Ich befinde mich momentan auf Jobsuche. Ein sehr guter Anlass, um mir in der Session von Holger Ahrens ein paar Hinweise zur Gestaltung von Profilen auf XING und LinkedIn geben zu lassen. Seine fünf Untipps: Nur ein zu 150% perfektes Profil ist ein gutes Profil, ein lustiges Foto erhöht die Chancen auf ein Vorstellungsgespräch, Informationen soll man horten und nicht teilen, man vernetze sich am besten mit ausnahmslos jedem und verballere überhaupt soviel Zeit wie möglich mit seiner Onlinepräsenz. Für alle, die das „Un“ vor dem „Tipps“ nicht gelesen oder gar missinterpretiert haben: so natürlich nicht.
Zum Abschluss des zweiten Tages beschäftigte mich nochmals das Thema Social Media und Community Management – „aus Gründen“, wie man so schön sagt. Vivian Pein und Tanja Laub definierten die idealtypischen Berufsbilder des Social Media und des Community Managers und führten uns anschließend mittels der Daten aus einer Studie des Bundesverbands Community Management e. V. (BVCM) vor, wie sich die reale Situation des Standes zurzeit darstellt.
So viel Wissensvermittlung und -austausch macht Hunger und Durst! Um die Verpflegung indes musste sich kein Teilnehmer sorgen. Ich weiß dann jetzt, warum das barcamp Hamburg auch zärtlich „Fresscamp“ genannt wird.
Lange Rede, kurzer Sinn – wer es noch nicht mitgemacht hat: Barcamps sind toll! Sowohl das ehrenamtliche Orgateam als auch die Sponsoren – allen voran die otto group, in deren Räumlichkeiten wir uns austoben durften – verdienen ein großes Lob und ein dickes Dankeschön.
Und im nächsten Jahr halte ich selbst eine Session. Versprochen.
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