Widerspruch

Ich habe da neulich einen Text bekommen, per WhatsApp.

*! Bitte Teilen !* 
Nicht ein einziger Kulturkreis geht uns so auf die Nerven, plündert uns so aus, terrorisiert ganze Stadtviertel wie diese fanatische Primatenkultur mit ihren mittelalterlichen Unsitten & Gebräuchen.
Mit keinem einzigen Zuwanderer, der zum Arbeiten!!! nach Deutschland kam, musste man je über Integration, Eingliederungsmaßnahmen, Sicherheitsrisiko….. sprechen.
Kein GRIECHE brauchte Schilder, dass man unsere Frauen nicht vergewaltigen darf, kein JAPANER musste darauf hingewiesen werden, dass man Frauen nicht ans Auto bindet und durch die Straßen schleift, kein SPANIER musste darauf aufmerksam gemacht werden, dass man Frauen nicht auflauert, nicht antanzt, kein BRITE, IRLÄNDER, NIEDERLÄNDER benötigte überteuerte Flirtkurse oder man musste ihnen zeigen, wie man richtig Frauen anbaggert und poppt.
Keinem THAILANDER wurde je erklärt, dass man Frauen nicht angrapschen darf.
Wir brauchten wegen ITALIENERN keine Armeslänge Abstand und für CHINESEN kein Pfefferspray oder eine Waffe.
Im Zug konnte man vollkommen Axt-frei fahren.
Integration war und ist für Griechen, Italiener, Vietnamesen, Russen und viele andere Nationalitäten eine Selbstverständlichkeit.
Diese Menschen sind ein Teil unserer Kultur geworden und haben unseren Alltag wirklich bereichert.
ABER NICHT DAS VOLK AUS DEM MORGENLAND MIT IHREN ENDLOSFORDERUNGEN…
„Ich will hier eine Moschee, ich will nur Halal Essen, ich will islamische Feiertage, ich will abgetrennte Bereiche in Schwimmbädern, ich habe 4 Frauen und 25 Kinder und habe keine Zeit zum Arbeiten, ich will ein Haus, ein Auto und Geld sonst mache ich Rabatz, meine Kinder fahren nicht mit zur Klassenfahrt, alle Ungläubigen müssen getötet werden usw. usw.“
KOSTE ES WAS ES WOLLE!!!
Es wird geraubt, überfallen, verprügelt, vergewaltigt und gemordet, als wäre dies das Selbstverständlichste von der Welt!
Wir wollen hier keine Idioten, die unser Leben nach ihren Vorstellungen gestalten wollen!
Klemmt euch eure Wunderlampe unter den Arm, setzt euch auf euren Teppich und fliegt zurück hinter den Bosporus oder nach Afrika!
Die Mehrheit der Europäer wird euch dankbar sein.
 *! Bitte Teile !* 

Das hat mich zunächst fassungslos hinterlassen und in der Folge einige Tage beschäftigt. Ob mein Widerspruch den Adressaten erreicht, ist fraglich. Ein Grund, ihn zusätzlich hier zu veröffentlichen.

Lieber Herr Dr. Sch.,

es geht nicht, ich kann diesen Text einfach nicht unwidersprochen lassen. Was nutzt es, wenn ich gegen den Thor Steinar-Laden in Barmbek, eine NPD- oder Pegida-Demonstration auf die Straße gehe, aber in Ihrem Falle kneife, nur, weil Sie so nett sind – ansonsten? Gar nichts.

Sie schreiben, dass jeder ein Recht auf eine eigene Meinung hat, aber nicht auf eigene Fakten.

Schauen wir uns zunächst den von Ihnen geteilten Text an. Fällt das bei Ihnen unter Meinung? Dann haben wir schon da unterschiedliche Definitionen. In meinen Augen handelt es sich um schlichte Hetze.

Da sind zunächst die Begriffe „Kulturkreis“, „Primatenkultur“ und „Volk aus dem Morgenland“. Es bedarf keiner großer Interpretationsanstrengung, um den Islam als Feindbild in diesen Zeilen zu erkennen. Als positive Gegenbeispiele werden Griechen, Japaner, Spanier, Briten, „Irländer“, Niederländer, „Thailander“, Italiener, Chinesen, Vietnamesen und Russen angeführt. Und das auf eine dermaßen platt pauschale Art und Weise, dass ich mich frage, wie ein intelligenter und empathiefähiger Mensch, der Sie zweifelsohne sind, diesen Kram auch nur mit der Zange anfassen kann.

Argumente gefällig? Bitte sehr.

  1. Hier werden Äpfel (Glaubenszugehörigkeit und eine diffuse Regionalbezeichnung) mit Birnen (Nationalität) verglichen. Stellen Sie sich vor: Es gibt vietnamesische Moslems! Wie übrigens auch türkische Christen. Oder syrische. Ich kenne welche.
  2. Auch aus der Türkei und Nordafrika sind Gastarbeiter eingewandert, haben sich integriert und unsere Kultur bereichert. Essen Sie gerne Döner, Lahmacum oder Falafel? Waren Sie schon einmal im Hamam? Großartig. Heiße (sic!) Empfehlung!
  3. „… kein SPANIER musste darauf aufmerksam gemacht werden, dass man Frauen nicht auflauert, nicht antanzt…“ Ach nein? Waren Sie mal in einer spanischen Disko? Als Frau, mit einer Gruppe von Frauen, ohne männliche Begleitung? Probieren Sie’s mal aus! Ähnlich üble Erfahrungen habe ich beispielsweise auch mit Italienern und Franzosen gemacht. Und, Überraschung! vor allem mit Deutschen. Und ich meine damit das, was einige Zeitgenossen „Biodeutsche“ nennen.
  4. „… kein BRITE, IRLÄNDER, … benötigte überteuerte Flirtkurse oder man musste ihnen zeigen, wie man richtig Frauen anbaggert und poppt.“ Glauben Sie mir, gerade diese Zielgruppe hätte das bitter nötig.
  5. „Im Zug konnte man vollkommen Axt-frei fahren.“ „Früher war alles besser?“ Come on, give me a break!
  6. „ABER NICHT DAS VOLK AUS DEM MORGENLAND MIT IHREN ENDLOSFORDERUNGEN… “ Hier kommen wir zum Thema Fakten. Wer fordert? Wem gegenüber? Was genau? Mit welchen Erfolgsaussichten? Ich hätte gern ein paar (belegbare) Beispiele. Davon ab: Unvernünftige und dreiste Forderungen sind kein Privileg einzelner Glaubensrichtungen oder Nationalitäten; stellen kann man sie immer und es wird fleißig davon Gebrauch gemacht in Politik und Gesellschaft. Die meisten dieser Forderungen landen da, wo sie hingehören: in der Tonne. Haben Sie so wenig Vertrauen in unsere Demokratie? Ich gebe unumwunden zu, meins hat nach dem Einzug der AfD in den Bundestag etwas gelitten. Und dennoch!
  7. „… ich will nur Halal Essen…“ Es gibt einen Unterschied zwischen einer Pauschalforderung (von der Sie mich erst überzeugen müssen, siehe Punkt 6) und einer Rücksichtnahme auf religiöse Speisevorschriften. Was machen Sie mit dem gläubigen Christen, der in der Fastenzeit keinen Alkohol und keine Süßigkeiten anrührt und sich an Freitagen grundsätzlich fleischlos ernährt? Wenn schon der Begriff „halal“ fällt, warum nicht auch gleich „koscher“? Oder sind Mitbürger jüdischen Glaubens erst beim nächsten Mal mit an der Reihe?
  8. „… ich will islamische Feiertage…“ Nochmal: Wer fordert? Wem gegenüber? Fun fact: Im Norden Deutschlands wird dieser Tage voraussichtlich die Einführung eines neuen Feiertags beschlossen. Es handelt sich um den Reformationstag. Soweit zum Thema Islamisierung des Abendlandes.
  9. „… ich habe 4 Frauen und 25 Kinder …“ Schönes Klischee! Ist mir noch nicht begegnet. Ok, sechs oder acht Kinder mit einer Frau, das schon. Wissen Sie was? Meine Mutter ist eines von dreizehn Geschwistern. Einige meiner Tanten und Onkel setzten diese Tradition fort, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen. Alles Asoziale?
  10. „… und habe keine Zeit zum Arbeiten, …“ Wenn Sie wüssten, wie viele Geflüchtete arbeiten, studieren oder eine Ausbildung absolvieren wollen, aber durch Bürokratieauswüchse daran gehindert werden. Wenn Sie wüssten, wie viel Diskriminierung Nachkommen von Einwanderern auch in der x-ten Generation noch aushalten müssen, nur weil sie keinen deutsch klingenden Namen tragen. Das betrifft den Arbeits- genauso wie den Wohnungsmarkt.

Ja, es gibt Ghettobildung und Parallelgesellschaften. Ja, es gibt Viertel in deutschen Städten, da wähnen Sie sich in einem völlig anderen Kulturkreis. Ja, es gibt Sozialbetrug, Radikalisierung, islamistische Gewalt; es gibt Vergewaltigungen und sogar Morde. Ich stelle das nicht infrage. Aber ich mache nicht „den Islam“ dafür verantwortlich. Sondern die Tatsache, dass es gute und böse Menschen unter allen Glaubensrichtungen und Nationalitäten gibt, unter seit jeher hier Ansässigen, Zugewanderten und hierher Geflüchteten. Und dass wir uns nicht wundern müssen über manches, wenn wir viele Menschen ohne Perspektive auf enge Räume zusammenpferchen und die, die es dennoch aus dieser Mühle geschafft haben, systematisch und vor allem pauschal ausgrenzen.

Wenn es etwas gibt, auf das das Wort „mittelalterlich“ zutrifft, dann ist es dieser Text. Ohne Differenzierung wird an den Pranger gestellt – ja, wer eigentlich? Nichts Genaues weiß man nicht. Meine katholisch-ostwestfälische Erziehung allein sträubt sich schon gegen solch eine krude Gemengelage. Packen Sie noch Logik und Sachlichkeit dazu und das Ding verpufft vollends.

Um zum guten Schluss noch einmal einen Anglizismus zu bemühen: You can do (much) better!

Ich glaube daran.

Beste Grüße,
Susanne Dirkwinkel

In Concert: Evgeny Kissin, Thomas Hengelbrock und das NDR Elbphilharmonie Orchester in der Elbphilharmonie

Da saß ich also mal wieder in der Elbphilharmonie und wollte mich eigentlich den musikalischen Darbietungen von Evgeny Kissin und dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Thomas Hengelbrock widmen.

Das Konzert begann pünktlich um 18 Uhr mit dem 2. Klavierkonzert von Béla Bartók und obwohl ich das Stück bisher nicht kannte und kein besonderer Bartók-Fan bin, bekam ich recht schnell eine Ahnung, warum Evgeny Kissin schon im zarten Alter von Mitte 40 als lebende Legende bezeichnet wird. Diese verfestigte sich durch die Zugabe, der Prélude cis-moll op. 3 Nr. 2 von Sergei Rachmaninoff. Einem Stück, mit dem mich einst auch mein Klavierlehrer zu quälen versuchte. Was mir damals sehr geholfen hätte: eine Aufnahme von jemandem zu hören, der das wirklich gut kann. Live ist natürlich noch besser. Nicht obwohl, sondern gerade weil mir Kissins Vortrag an der ein oder anderen Stelle ein wenig zu geziert erschien – kann man machen, hätte ich aber so nicht.

In der Pause leuchteten im Großen Saal die Smartphone-Bildschirme auf. Überall wurden die ersten Prognosen zum Ergebnis der Bundestagswahl 2017 abgerufen und diskutiert. Es passierte das Unvermeidliche: „13%! Das ist doch schon mal gut“, kommentierte eine Dame in der Reihe direkt vor mir, bevor sie ihren Sitz verließ.

Was macht man da? Ihr übers Kleid kotzen, wie ich spontan auf Twitter vorschlug? Was mir zwar einigen Beifall einbrachte, aber letztlich reichlich albern ist. Das ist, was man an Hilflosigkeiten von sich gibt, wenn man zwar mit dem Einzug einer Nazifraktion ins Bundesparlament gerechnet hat, aber wahrlich nicht in dieser Stärke.

Vor einigen Monaten hatte ich noch laut darüber nachgedacht, Angela Merkel bzw. der CDU meine Stimme zu geben und meine Skepsis gegenüber der SPD-Spitzenkandidatur von Martin Schulz geäußert. Ich habe ersteres dann doch nicht getan und mit letzterem (leider) recht behalten. Aber stärker als noch beim Amtsantritt des 45. Präsidenten der USA beschleicht mich jetzt das Gefühl, dass alle paar Jahre meine Kreuzchen zu machen allein nicht mehr ausreicht. Dass ich tun sollte, was ich bisher kategorisch ausgeschlossen habe: nicht mehr bloß passiver Anhänger der Demokratie zu sein, sondern Mitglied einer ausgewiesen demokratischen Partei zu werden. Mit diesem Gedanken, so stellte ich schnell fest, befinde ich mich in guter Gesellschaft, zumindest innerhalb meiner Filterblase.

Zurück zum Konzertabend. Es folgte Gustav Mahlers 1. Sinfonie in D-Dur (in der Hamburger Fassung, aber ohne den 2. Satz „Blumine“). Mir war durch die aktuellen Ereignisse und eine leichte Ermattung als Nachwirkung der Londonwoche leider ein wenig die Konzentration abhandengekommen, aber eines kann ich erneut durch Erfahrung bestätigen: Ganz oben, auf den billigen Plätzen, ist der Elphi-Sound grandios. Und das NDR Elbphilharmonie Orchester kennt sich mittlerweile sehr gut aus in seinem neuen Zuhause.