The Show must go online (10)

Hatte ich eigentlich erwähnt, dass die „Harry Potter“-Vorstellung in London, für die ich eine Karte hatte, inzwischen abgesagt wurden? Nein? Immerhin war das Geld in Rekordzeit zurück auf meinem Kreditkartenkonto. Den Hauptteil davon habe ich eh längst in die britische Theaterlandschaft reinvestiert – passt also. Mit den Philharmonikern bin ich ebenfalls quitt – das war vorbildlich! -, aber auf die Erstattungen der Elbphilharmonie warte ich noch immer und von Ticketmaster fange ich besser gar nicht erst an.

Indes fordert die anhaltende Veranstaltungsmisere die ersten Opfer in Hamburg: Die Theaterkasse Schumacher, älteste Vorverkaufsstelle der Hansestadt, wird im 117. Jahr ihres Bestehens das „Geschäftsfeld ‚Vermittlung und Verkauf von Eintrittskarten‘ ab dem 30. Juni 2020 weitestgehend einstellen.“

Aber es gibt auch hoffnungsfrohe Nachrichten. Die Initiatoren von „Keiner kommt – alle machen mit“ legen nach: „Eine(r) kommt, alle machen mit“ soll „ein Ständchen für die Helfer*innen werden“ und kommt am 18. Juni 2020 als Streaming-Live-Show aus der Elbphilharmonie, zu sehen unter anderem beim Stern, der Mopo und auf hamburg.de.

Die Hamburger Symphoniker haben sich derweil Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ vorgenommen und präsentieren unter dem Titel „Die liebe Erde allüberall“ zwischen dem 20. und 28. Juni 2020 an sechs Abenden auf www.symphonikerhamburg.de musikalische Collagen live aus der Laeiszhalle, flankiert von philosophisch-poetischen Kommentaren, Videokunst und einer durch künstliche Intelligenz geschaffenen Bildwelt. Am letzten Abend wird „Das Lied von der Erde“ selbst aufgeführt – coronagerecht von 16 Musikern in der Kammerorchesterfassung von Schönberg/Riehn. Zu den musikalischen Gästen zählen unter anderem Martha Argerich und Andrei Ioniță.

Auch für den Fall, dass der eine oder die andere genervt mit den Augen rollt, aber ich muss an dieser Stelle noch ein weiteres Mal die Werbetrommel für National Theater at home rühren. Vorgestern wurden die vorerst letzten fünf Termine angekündigt, darunter auch „A Midsummer Night’s Dream“ in einer Produktion des Bridge Theatre mit Gwendoline Christie als Titania. Ich hatte letztes Jahr bereits im Rahmen der Reihe „English Theatre“ im Savoy das Vergnügen und kann die Inszenierung daher aus voller Überzeugung empfehlen. Wer sich von euch für (englisches) Theater, Shakespeare im Allgemeinen, den „Sommernachtstraum“ im Speziellen oder Gwendoline Christie interessiert (Mehrfachnennungen möglich): unbedingt anschauen! Wer sich in dieser Auflistung nicht wiedergefunden haben sollte, aber einigermaßen der englischen Sprache mächtig ist: Guckt einfach mal rein und ihr versteht vielleicht, warum ich von dem Thema nicht lassen kann. Die Premiere ist am 25. Juni 2020 um 20.00 Uhr (MESZ) und der Stream danach noch für eine Woche auf dem YouTube-Kanal des National Theatre abrufbar.

Aus Folge 9 dieser Serie möchte ich noch nachtragen, dass Mark Haddon das Reh (den Hirsch?) in seiner Graphic Short Story „Social Distance“ definitiv nicht als Patronus gedacht hat. Das war meine Phantasie, nicht seine. Ich habe es aus erster Hand: Er schrieb mir auf Twitter. Ein Grund, warum ich das liebe, was man gemeinhin Social Media nennt (und immer fleißig die Blogbeiträge in den diversen Kanälen verlinke).

Freizeitstreß

Ich weiß nicht, ob es allen so geht, aber alle Jahre wieder in der Zeit von Oktober bis Dezember formiert sich in meinem Kalender diese eine Woche, in der man jeden Abend mindestens zweimal mit Konzerten oder anderen Kulturhighlights belegen könnte. Und da jedes Mal Unwiderstehlichkeiten dabei sind, entwickelt sich daraus regelmäßig eine Großkampfstrecke.

Dieser Tage ist es wieder so weit. Gewissermaßen als Vorbote spielte am Donnerstag vorvergangener Woche Francesco Tristano im kleinen Saal der Elbphilharmonie, am Montag folgte die National Theatre-Produktion von „A Mid Summer Night’s Dream“ im Savoy, am Mittwoch Ludovico Einaudi im Großen Saal und am Donnerstag das „Blind Date“ im Kleinen Saal wieder der Elbphilharmonie, gestern Abend standen Martin Kohlstedt und der Leipziger GewandhausChor in der Laeiszhalle auf der Bühne und morgen geht es nahtlos weiter mit meinem kleinen ungeraden Philharmoniker-Montagsabo. Dann ist dreieinhalb Wochen Konzertpause. Das aber auch nur, weil ich mein Max Richter-Ticket aus dienstreisetechnischen Gründen in gute Hände abgeben habe müssen.

Man verzeihe mir also, dass ich vorübergehend in den Schnelldurchlaufmodus umschalte.

Francesco Tristanos Debut in der Elbphilharmonie bestand aus der Präsentation seines aktuellen Albums „Tokyo Stories“. Anders als die „Piano Circle Songs“, die ich 2017 in der Royal Festival Hall hörte, sind die „Tokyo Stories“ mehrheitlich nicht Piano solo, sondern Piano plus Rhythmisch-Elektronisches besetzt, wobei letzteres mehr oder weniger vom Band (= Computer) lief. Man könnte sagen: Tristano spielte live auf dem Konzertflügel gegen sein elektronisches Ich. Das muss man so überzeugend wie geschehen auch erst einmal hinlegen. Symptomatisch nannte das zum Eintritt gereichte Infoblättchen – ich möchte es nicht Programm nennen, aber immerhin, es gab eines – den Track „Electric Mirror“ und ja, der ist definitiv symptomatisch für die Musik des Francesco Tristano, wenn auch nicht unbedingt für die „Tokyo Stories“. Das ist viel eher „The Third Bridge of Nakameguro“; es ist wohl kein Zufall, dass der Song auch für den Albumtrailer ausgewählt wurde.

Ich mochte die „Tokyo Stories“, die hektischen wie die kontemplativen, und es dauerte es eine Weile und mehrere vertiefende Durchgänge bei Spotify, bis ich herausfand, was mich an ihnen stört: Es sind die Sounds. Vermutlich passen sie ganz hervorragend zur beschriebenen Stadt, das kann ich mir sehr gut vorstellen, sogar ohne jemals dort gewesen zu sein. Aber sie passen nicht ganz in mein Ohr. Wobei, zugegeben, als Nils Frahm-Aficionado bin ich diesbezüglich extrem verwöhnt. Oder voreingenommen, je nach Blickwinkel.

Übrigens ist das Konzert Teil von ProArte X, wurde von Mischa Kreiskott (NDR Kultur Neo) anmoderiert und falls diese Reihe weiterlaufen sollte, werde ich mich wohl um ein Abo bemühen müssen.

Die Veranstaltung mit Ludovico Einaudi ein paar Tage später fiel gleich ein paar Nummern größer aus: Nicht nur, dass es ein Zusatzkonzert gab, beide Termine waren restlos ausverkauft und an beiden Abenden standen deshalb je eine gute Handvoll hoffnungsvoller Ticketsuchender frierend vorm Eingang. Die meisten waren mit klassischen Papier- bzw. Pappschildern bewaffnet, aber ich sah auch jemanden, der ein Tablet nutzte. Gar nicht so dumm, weil hintergrundbeleuchtet! Eine besondere Stimmung war das im Großen Saal: Das Publikum bestand mehrheitlich aus andächtig lauschenden Einaudi-Verehrern, darunter viele Elphi-Erstis und nicht wenige davon in Abendgarderobe. Das gelegentlich vernehmbare Hustenbonbonpapierknistern und die mindestens zwei aus Hosentaschen oder von Sitzen polternd abgestürzten Mobiltelefone finde ich unter solchen Umständen verzeihlich, denn da saßen keine gelangweilten Elbphilharmonie-Touristen, sondern Konzertsaalneulinge und doch, diesen Unterschied kann man hören und spüren. Apropos, wir können alle miteinander froh sein, dass die Sitze im Großen Saal nahezu geräuschlos hochklappen und auch die Türen im Flüstermodus bedienbar sind. Das ist in der Laeiszhalle leider ganz anders und entsprechend wirkt es sich auf die Nebengeräuschkulisse aus. Insbesondere, wenn es sich um ein Konzert mit mehrheitlich unkundigem Publikum und niedrigem Lautstärkepegel handelt, in das Zuspätkommer zu allem Übel dann auch noch unerklärlicherweise mitten im Stück eingelassen werden.

Aber zurück zu Ludovico Einaudi. Musikalisch gesehen bewege ich mich inzwischen in anderen Gewässern, aber vieles von dem, was mir heute selbstverständlich ist, hat mit ihm seinen Anfang genommen. Das habe ich nicht vergessen und ich kann es auch immer noch hören. Nichtsdestotrotz werde ich dieses Kapitel wohl mit dem Abend in der Elbphilharmonie abschließen.

Was keinesfalls für die Reihe „Blind Date“ im Kleinen Saal gilt! Nur ein paar Notenständer waren zu sehen, bevor die Überraschungsgäste des Abends vor dem Publikum erschienen. Pünktlich um kurz nach halb acht traten nicht weniger als acht Posaunisten aus der Tür und begannen ihren Auftritt höchst  effektvoll mit der „Olympic Fanfare“ von John Williams. Trombone Unit Hannover nennen sich die Musiker, die hauptamtlich in Orchestern wie den Bamberger und Hamburger Symphonikern, dem SWR Symphonieorchester, dem Orchester der Staatsoper Hannover, der Deutschen Radiophilharmonie Saarbrücken oder dem Berliner Konzerthausorchester unterwegs sind.

Ich würde mich nun nicht gerade als blechbläseraffin bezeichnen, aber dieses Ensemble hat mich überzeugt. Meinen beiden Lieblingsstücken aus dem präsentierten Programm: die Improvisation über gregorianische Gesänge von Hildegard von Bingen und „Osteoblast“ von Derek Bourgeois.

Bleibt zum vorläufigen Schluss der gestrige Auftritt von Martin Kohlstedt und dem GewandhausChor in der Laeiszhalle, zu dem mir bis zur Stunde immer noch kein angemessener Wortbeitrag eingefallen ist, der über den Satz „Was für ein Geschenk!“ hinausgeht.

Aber vielleicht kommt das ja noch. Dann hole ich es nach.