In Concert: Die SHMF Klub-Nacht in der S-Bahn-Station Hamburg Airport

Dass ich mir zuletzt zu 50% wegen Ólafur Arnalds eine Nacht um die Ohren geschlagen habe, ist etwas über ein Jahr her. Dieses Mal war die Anreise nicht so lang – bis zum Airport sind es von meiner Wohnung aus nur drei Stationen mit der S1 – und bei der anderen Hälfte handelte es sich nicht um Nils Frahm, sondern um Janus Rasmussen.

Unter dem Namen Kiasmos präsentierten die beiden ein weiteres Mal ihre minimalistisch-experimentelle Version des Techno und wurden dabei unterstützt durch DJ-Sets von Melbo und Aparde. Das Außergewöhnliche bei diesem Auftritt war sowohl der Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals als auch der Veranstaltungsort, die S-Bahn-Station des Hamburger Flughafens. Zwei Sonderzüge brachten die Ticketinhaber auf den Bahnsteig, auf dem bereits Licht- und Tontechnik sowie ein DJ-Pult aufgebaut war. Die S-Bahn-Züge dienten während des Konzerts als Sitzgelegenheit und Bar und im Anschluss als Rücktransportmittel.

Laut Veranstalterangabe war die Klub-Nacht ausverkauft. Dafür befanden sich für mein Empfinden erstaunlich wenige Menschen in den Sonderzügen und auf dem Bahnsteig, der obendrein ungefähr zur Hälfte abgesperrt war. Der Stimmung tat das keinen Abbruch, wozu das longdrink- und shotlastige Getränkeangebot sicher beigetragen hat. Der Altersdurchschnitt lag erwartungsgemäß deutlich unter dem der Mehrzahl der übrigen Programmteile des Schleswig-Holstein Musik Festivals, wobei ich einige Besucher sah, die sich unter „SHMF Klub-Nacht“ möglicherweise etwas anderes vorgestellt hatten. „‚Klub‘ wie Rave, nicht das mit den Zweireihern“, wollte man Ihnen nachträglich zuraunen.

Den Anfang machte Melbo, eine gelungene Wahl. Gegen halb zwei übernahmen Kiasmos das Ruder. An dieser Stelle machte sich erneut ein Phänomen bemerkbar, welches mir zunehmend auf den Senkel geht: das Partyvolk unter den Konzertbesuchern, das in erster Linie daran interessiert ist, sich selbst zu feiern. Da betritt der Hauptact die Bühne und die gehen erst einmal Getränke holen. Ist irgendwie Krach da vorne, groovt auch gut, aber wer da steht und was wir da hören – who cares! Selfiesmile! Noch’n Wodka-Red Bull? Ups, ahahaha, Drink verschüttet, der Tante direkt auf die Füße! Lustig!

Zugegeben, ich setze da wohl zu strenge Maßstäbe an, zumal bei einer Veranstaltung, die offensiv als Party beworben wurde. Es führte jedenfalls dazu, dass ich mich nach wenigen Minuten aus der Menge an den seitlichen Rand des DJ-Pults verzog. Da war die Luft besser, ich hatte Platz, mich zu bewegen und außerdem konnte ich den Akteuren aus etwa drei Metern Entfernung direkt auf die Finger gucken.

Ólafur Arnalds und Janus Rasmussen agierten verhalten. Ein wenig mehr Animation Richtung Publikum hätte dazu beitragen können, die Aufmerksamkeitsrate zu erhöhen und die Stimmung trotz der vergleichsweise übersichtlichen Menge anzuheizen. So blieb es bei dem Eindruck, dass Publikum und Künstler während des rund 1 1/2-stündigen Sets nicht ganz zueinander fanden.

Um kurz nach drei Uhr löste Aparde das Duo ab, Schlag vier erklangen die letzten Beats und das Licht wurde angeschaltet. Binnen weniger Minuten waren Reinigungsfahrzeuge auf den Bahnsteigen im Einsatz. Die Bahnen füllten sich, die Besucher mussten allerdings noch geschlagene zwanzig Minuten auf die Abfahrt der Züge warten. Das alles hatte sicherlich gute und auch sicherheitsrelevante Gründe, erzeugte aber nichtsdestotrotz das Gefühl einer ziemlich brachialen Rückbeförderung in die Realität. Ich behalte die SHMF Klub-Nacht am Hamburger Airport daher als eine unterhaltsame und perfekt organisierte, aber auch irgendwie sterile Veranstaltung in Erinnerung.

Und was die Stimmung betrifft: Vielleicht sollte ich irgendwann mal einen Kiasmos-Gig außerhalb von Hamburg besuchen. Da ist eindeutig noch Luft nach oben.

Theater, Theater: „Hotel Paradiso“ im Ernst Deutsch Theater

Es mag nicht allgemein bekannt sein, aber das Programm des Schleswig-Holstein Musik Festivals beschränkt sich keinesfalls nur auf klassische Musik. Meine diesjährige Auswahl spiegelt diese Tatsache nahezu perfekt wider:

  1. Kammermusikensemble trifft Mandolinist trifft präpariertes Klavier,
  2. Orchesterkonzert,
  3. Theater und
  4. (Minimal) Techno.

Gestern war das Theater dran: Familie Flöz lud ein ins „Hotel Paradiso“. Ich saß in der vorletzten Reihe des vollgepackten Ernst Deutsch Theaters und staunte darüber, dass ich da vor mir auf der Bühne ein Stück ganz ohne Worte und ohne Mienenspiel sah – alle Darsteller trugen Masken – und doch alles verstand. Allein mittels Bühnenbild, Requisiten und Toneinspielungen, aber vor allem durch den körperlichen Ausdruck der jeweils handelnden Personen.

So gut war das, dass ich erst zum Schlussapplaus begriff: Die insgesamt 16 Charaktere*) des Stückes wurden von nur vier Schauspielern verkörpert. Und hinter der Maske der alten Dame war gar keine. Also, eine Dame jetzt.

Einzig das Stück selbst war nicht ganz nach meinem Geschmack. „Nie war Familie Flöz böser und abgründiger“, heißt es in der Beschreibung, „ein Alpen-Traum voll von schwarzem Humor, stürmischen Gefühlen und einem Hauch Melancholie.“ Von mir aus hätte der Melancholieanteil gerne höher und der Humor dafür etwas weniger robust ausfallen dürfen.

Momentan ist Familie Flöz noch mit drei weiteren Produktionen unterwegs: „Haydi!“, „Teatro Delusio“ und „Infinita“. Die vier Aufführungen von „Teatro Delusio“ ab morgen bis zum 21. 7. im Kieler Schauspielhaus sind allerdings bereits restlos ausverkauft.


*) Die Seniorchefin, der Sohn, die Tochter, der Seniorchef;
der Koch, das Zimmermädchen, der rotlivrierte Bellboy;
der Dieb, der Kommissar, der Assistent;
der Hotelkritiker;
die aufgetakelte Frau, die Frau mit dem Fotoapparat,
der Jogger, der Erleuchtete, der Gast, der dann doch keiner wurde und ich habe bestimmt noch jemanden vergessen.

Nachtrag: MSM im Planetarium Hamburg

Preisfrage: Wo bekommt man – unter anderem! – Peter Schilling, The Korgis, Johann Sebastian Bach, Monolake, Reinhard Mey, den Erdbeermund (das waren Culture Beat, oder? Meine Güte, ist das lange her), Phil Collins, Schiller, Sade, Brian Eno und Autograf in einem Set zu hören? Und dann auch noch so fabulös bebildert und belasert?

Antwort: Das gibt es nur bei MSM aka Mousse T./Schiller/Marionneau im Planetarium Hamburg.

Sternstunde. Ab jetzt wieder jährlich, ja? Wir bitten darum.

In Concert: Philip Glass zum 80. in der Elbphilharmonie

Wie das immer so ist: Erst passiert ewig nichts und dann alles auf einmal. Mein zweiter SHMF-Konzertbesuch ist noch immer unverbloggt, dabei war das schon vor einer Woche. Höchste Zeit, es nachzuholen.

Als ich irgendwann im Februar das aktuelle Programm des Schleswig-Holstein Musik Festivals in die Hände bekam, war aus diesem „Philip Glass zum 80.“ mit Daniel Hope und dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Hugh Wolff das eine Konzert, für das ich unbedingt eine Karte haben wollte. Mit Blick auf den Veranstaltungsort verpuffte meine Euphorie jedoch schlagartig. „Keine Chance“, dachte ich, „auf die Elphi-Konzerte werden sich Sponsoren und Vereinsmitglieder stürzen wie die Geier. Das kannste gepflegt knicken.“ Ich verdrängte meine Enttäuschung, suchte mir drei andere Perlen aus dem Programm, bestellte und bekam, was ich sehen und hören wollte.

Ganz aus dem Kopf schlagen konnte ich mir das Traumkonzert jedoch nicht, weswegen ich ein paar Wochen später die Wartelistenoption wahrnahm und zu meiner großen Überraschung und Freude berücksichtigt wurde. Man soll halt nie vorzeitig die Flinte ins Korn*) werfen.

Zu Beginn des Abends begrüßte Dr. Christian Kuhnt, Intendant des SHMF, die Anwesenden und bekannte, schon vor Jahren davon geträumt zu haben, in der dann neu erbauten Philharmonie einen Philip Glass-Abend veranstalten zu dürfen. Zunächst aber hatte Maurice Ravel mit „Une barque sur l‘ océan“ das Wort. Als Intro für Philip Glass mag diese Wahl etwas ungewöhnlich anmuten, ist aber insofern sinnig, als das Ravel in diesem Jahr im Fokus des Festivals steht. Und ein schönes Stück ist es ohne Frage.

Es war mein erstes Zusammentreffen mit dem hr-Sinfonieorchester unter Hugh Wolff, für mich zuvor ein unbeschriebenes Blatt, und ich entwickelte eine Spontansympathie schon nach wenigen Takten. Diese vertiefte sich noch durch die weiteren Programmpunkte des Abends, dem 1. Violinkonzert und der 1. Sinfonie („Low Symphony“) von Philip Glass sowie der Zugabe „Alborada del Gracioso“, wiederum von Maurice Ravel.

Solist beim Violinkonzert war Daniel Hope und eigentlich bin ich ja Fan. Aber auch ohne das Stück vorher gehört zu haben, fiel mir auf, dass das Zusammenspiel mit dem Orchester an einigen Stellen nicht ganz synchron war. Auf der Suche nach Beurteilungen anderer stieß ich auf zwei nahezu gegensätzliche Kritiken: „hpe“ lobt in der „Welt“ den Solisten und schmäht das Orchester – OK, die Trompete habe ich auch gehört, aber das war wirklich der einzige Patzer, der mir in Erinnerung geblieben ist -, während Verena Fischer-Zernin im „Hamburger Abendblatt“ meine Beobachtungen bestätigt. Es ist schon faszinierend, wie unterschiedlich Menschen Kulturereignisse wahrnehmen. Von Kritikern ganz zu schweigen.

Wie dem auch sei, Hopes Zugabe merzte den zwiespältigen Eindruck im Anschluss gänzlich wieder aus. Er spielte das Kaddish von Maurice Ravel und widmete es dem kürzlich verstorbenen Sir Jeffrey Tate. Ein Stein, der da keine Träne im Knopfloch hatte.

Als kleinen Nebeneffekt habe ich durch die Wartelistenlotterie übrigens in Erfahrung bringen können, auf welchen Plätzen man im Großen Saal sowohl perfekt sehen als auch sehr gut hören kann. Leider sind es mit die teuersten, wodurch dieser Genuss künftig die Ausnahme von der Regel bilden wird.


*) Apropos, falls jemand eine (seriöse) Kartenquelle fürs Tingvall Trio weiß, Termin: 8. 11. 2017 in der Elbphilharmonie: bitte melden!

Militärmusik aus Düsseldorf*)

Während das Video mit dem Auftritt der Militärkapelle auf der Parade zum diesjährigen französischen Nationalfeiertag um die Welt geht, taucht vor meinem inneren Auge die Big Band der Bundeswehr auf, wie sie zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2017 in Mainz „Wir sind die Roboter“ von Kraftwerk intoniert.

Honi soit qui mal y pense.


*) sehr frei nach Mikael Niemi

Musik liegt in der Luft

Hamburg-Winterhude. Hinter dem Planetarium zerparkt Mousse T. den gerade erst frisch wieder angewachsenen Grünstreifen. Zugegeben, es ist eine schicke Karre – Maserati hat hässlichere Autos gebaut – und der Mann ist in guter (bzw. schlechter) Gesellschaft, wie die zahlreichen Reifenspuren beweisen. Dennoch, nicht sehr gentlemanlike, Herr von und zu! So weit ist der Parkplatz nicht entfernt. Und wer keinen Fahrer hat, darf ruhig auch mal ein paar Schritte zu Fuß laufen.

"DJ, wir wissen, wo Dein Auto steht!"
„DJ, wir wissen, wo Dein Auto steht!“

Damit beende ich die Lästerei, sonst macht es morgen Abend am Ende noch „Meeep!“ bei der Ticketkontrolle und ich werde nicht reingelassen. Das wäre fatal, immerhin steht das erste Mousse T./Schiller/Marionneau nach 3 1/2 Jahren an. Ich schmunzele immer noch ein bisschen über die Veranstaltungsankündigung von heute Morgen, die mir die Facebook-App ungefragt aus dem Französischen übersetzte: „T-Schaum./Schiller/Marionneau“. Immer, wenn ich glaube, dass ich endlich alle Automatismen abgestellt habe, die mir den Newsfeed versauen, denken sich Zuckerbergs Schergen eine neue Finte aus. Wenigstens hat mir diese einen Lacher entlockt.

Auf der anderen Seite des Stadtparks kündigen Fury in the Slaughterhouse einen Konzeptabend an. „30 Jahre Fury, 30 Songs. Ich hoffe, ihr habt Zeit mitgebracht!“ Es erklingt das Intro von „Radio Orchid“. Ich singe die erste Strophe und den Refrain mit, bis ich außer Hörweite bin.

In Concert: Avi Avital, Hauschka und das vision string quartet in der Rotunde der MuK zu Lübeck

Da ist noch von der Keimzelle meiner Gipfelflucht nach Lübeck zu berichten: das Konzert unter der Überschrift „Avital & Hauschka“ in der Rotunde der Musik- und Kongresshalle (MuK).

Zwei Gründe gab es für diese Wahl: Ich sah und hörte Avi Avital bereits bei der Vorstellung des SHMF-Programms der laufenden Saison in Hamburg und bekam dabei Lust auf mehr. Außerdem hatte ich Volker Bertelmann aka Hauschka, dessen Musik mir zuvor schon ein paar Mal in diversen Compilations und durch den Spotify-Algorithmus ins Ohr geraten war, bisher noch nicht live erlebt. Abgesehen davon reizte mich die Kombination „Mandolinist trifft Klavierverfremder“.

Gar nicht auf dem Schirm hatte ich dabei das vision string quartet, das – überraschenderweise, so zumindest für mich – einen Großteil des Abends bestritt. Der Seitenblick ins Programmheft der Sitznachbarin verriet mir, daß Avi Avital und Hauschka tatsächlich nur für die Dauer eines Stücks leibhaftig aufeinandertreffen würden. Meine anfängliche Enttäuschung legte sich aber rasch, als Avital und die Streicher das erste Stück anstimmten: „Cymbeline“ für Mandoline und Streichquartett von David Bruce. Sowohl die Komposition als auch die vier mir bis dato unbekannten Musiker überzeugten auf Anhieb.

Dieser Eindruck verstärkte sich im weiteren Verlauf. Anders als im Programm vorgesehen wurde das Streichquartett Nr. 1 von Alberto Ginastera gegeben. Für mich kein Verlust, denn ich kannte weder dieses noch die ursprünglich angesetzten „Fünf Stücke für Streichquartett“ von Erwin Schulhoff. Die vier Sätze wurden durch die Pause geteilt – eine unglückliche Entscheidung. Unabhängig davon mochte ich es sehr. Noch eine Neuentdeckung! Die zwei Auftragswerke „Flood“ und „Draught“ von Hauschka für Mandoline und Streichquartett wurden ganz zum Schluss präsentiert, was auch dramaturgisch wunderbar passte.

Der Komponist als Musiker hatte es dagegen sowohl mit seiner Solo-Klavierimprovisation als auch im Zusammenspiel mit Avi Avital nicht ganz so leicht. Die Technik und die Akustik der Rotunde passten nicht optimal zusammen, das Publikum reagierte norddeutsch-spröde. Überhaupt schien mir die Mehrzahl der Anwesenden eher an dem gesellschaftlichen Ereignis Schleswig-Holstein Musik Festival als an der aufgeführten Musik interessiert zu sein. Einige verließen vorzeitig den Saal, nicht wenige Menschen schafften es nicht rechtzeitig zu Beginn des zweiten Teils auf ihre Plätze zurück und das Interesse an der Zugabe hätte ruhig größer ausfallen dürfen. Kein schöner Eindruck.

Ein wenig erstaunt hat mich auch, dass erst auf Veranlassung einer Zuhörerin hin das störende Gebläse abgeschaltet wurde. Schließlich war es nicht die erste Veranstaltung dieser Art an diesem Ort. Da sollte man doch meinen, dass gewisse Erfahrungswerte vorhanden sind.

In meinen Augen (und Ohren) war es trotz der ein oder anderen kleinen Unwucht im Gesamtablauf ein gelungener Konzertabend. Das Lübecker Konzertpublikum aber, so scheint es mir, ist wohl noch nicht bereit für Hauschka. Vielleicht ist es aber auch schlicht nicht sonderlich experimentierfreudig. Schade eigentlich.

Ein Wochenendausflug nach Lübeck (und Travemünde)

Als ich irgendwann im letzten Jahr erfuhr, dass der G20-Gipfel in Hamburg stattfinden und es dort möglicherweise zum ersten Auftritt Donald Trumps in Deutschland kommen würde, war ich wild entschlossen, mich in die Demonstrantenschar einzureihen. Von der Mehrzahl der offenbar unvermeidlichen Aktionen latent militanter Globalisierungsgegner hielt und halte ich zwar wenig (vom sogenannten Schwarzen Block ganz zu schweigen). Aber die Teilnahme an friedlichem, buntem und dabei entschlossenem Protest, mindestens gegen den 45. Präsidenten der USA und seine Politik, erschien mir als unverzichtbarer Beitrag zur Staatsbürgerpflicht.

Je näher das Datum rückte, desto mehr schwand jedoch meine Energie. Das ist vor allem einer seit Monaten andauernden, sich stetig weiter verschärfenden beruflichen Hängepartie geschuldet. Als ich mir schließlich einen Konzerttermin aus dem Programm des Schleswig-Holstein Musik Festivals in der Musik- und Kongresshalle zu Lübeck aussuchte und erst im Nachhinein bemerkte, dass es sich bei dem fraglichen Datum ausgerechnet um das Gipfelwochenende handelte, nahm ich das als Wink mit dem Zaunpfahl. Ich suchte mir eine Übernachtungsgelegenheit und flüchtete ab Freitagmittag vor Chaos, sinnbefreiter Zerstörungswut und Helikopterlärm gen Norden.

Hübsche Giebel
Hübsche Giebel

Lübeck, so stellte ich dabei zum wiederholten Male fest, ist eine Reise wert. Die Highlights der meinen:

Eis-Pavillon am Holstentor
Offiziell ist es zwar kein Softeis, aber es sieht wie welches aus und schmeckt auch so, nämlich sehr cremig. Die Knuspertüte mit allen drei Sorten – ganz klassisch: Schoko, Vanille, Erdbeer – plus Streusel kostet 1,50 Euro. Mjam.

Niederegger
Kaufen musste ich da nichts, denn wer in Hamburg wohnt, muss fürs Niederegger-Marzipan nicht nach Lübeck fahren. Dennoch, es lohnt allein wegen der Atmosphäre. Wenn der Laden nicht gerade bis unters Dach voll ist mit Reisegruppen und Kreuzfahrttouristen.

St. Marien
Touristisch gut erschlossen und sehr beeindruckend, nicht zuletzt durch die als Mahnmal in der ehemaligen Schinkel-Kapelle ausgestellten Reste zweier Kirchenglocken. Sie waren bei einem am Palmsonntag 1942 durch Bombenangriffe ausgelösten Brand in den Südturm gestürzt und geborsten.
Unter anderem ist ein Kunstwerk von Günther Uecker zu sehen, Dietrich Buxtehude liegt dort begraben und dann ist da noch die Sache mit der Steinmaus. Eine freundliche Dame erklärte mir auf Nachfrage, dass die Maus unter Wandergesellen früher als eine Art Geocache galt. Wer wusste, wo sie zu finden ist, konnte so beweisen, in Lübeck gewesen zu sein.

Miera
Ein klein wenig teurer, dafür aber keine Touristenfalle bei leckerstem Essen.
Ich bin ansonsten hemmungslos als Einzelkämpferin unterwegs, vorzugsweise bei Konzerten, aber ich gehe nur ungern allein essen. Es ist mir einfach zu langweilig. Im Miera war das kein Problem: Da das Wetter es erlaubte, setzte ich mich an einen der Straßentische und wurde bestens unterhalten. Augenscheinlich handelt es sich bei der Örtlichkeit um einen Treffpunkt der Lübecker Bussi-Gesellschaft. Höhepunkt des Schaulaufens: Ein Autofahrer, Typ alternder Dandy, brummte im Schritttempo an dem Laden vorbei, hielt vor dem Eingang an, streckte für einen Moment suchend den Kopf aus dem Fenster und fuhr weiter. Aus der Anlage des Fahrzeugs erschallte dazu die sonore Stimme von Barry White.

Miera
Miera

Mein kurzes, aber schallendes Gelächter wurde von den Umsitzenden mit leichter Irritation quittiert.

Buddenbrookhaus
Ja, doch, das musste. Und es lohnt sich. Bisher habe ich ständig die Namen der Geschwister, Kinder und Kindeskinder von Thomas Mann durcheinander gekriegt. Kein Wunder bei der Weitläufigkeit der Familie. Das passiert mir nach dem zweistündigen Aufenthalt in Dauer- und Sonderausstellung künftig nicht mehr. Sehr schön sind auch die beiden als begehbarer Roman zurechtgemachten Buddenbrook-Zimmer im zweiten Stock.

Buddenbrookhaus
Buddenbrookhaus

Im Museumsshop gibt es Bücher, Hörbücher, DVDs und einige hübsche, leckere und praktische Dinge bei erfreulich wenig Kitsch zu kaufen. Neben einer großen Auswahl an Primär- und Sekundärliteratur von den und über die Manns lagen übrigens auch Titel wie „Mein schwarzer Hund“ von Matthew Johnstone in den Regalen. Das ist geschickt platziert und keineswegs ohne Bezug, wenn man bedenkt, wie viele Familienmitglieder durch Selbstmord aus dem Leben gegangen sind.

St. Jakobi
Ein Pflichttermin schon aus nautischen Gründen.
An der prachtvollen großen historischen Orgel sind mir die Gesichter auf einigen der Orgelpfeifen aufgefallen. Was es damit auf sich hat, konnte ich leider nicht ausfindig machen und auch die Webseite schweigt sich dazu aus. Man rennt überhaupt ein wenig orientierungslos durch das Gebäude; es fehlt an Hinweisen vor Ort. Diesbezüglich schneidet St. Marien deutlich besser ab.

Hüxstraßenfest
Bunt und fröhlich und voll. Fischbrötchen bei Krützfeld (No. 23) gegessen und erwartungsgemäß bei MaKULaTUR hängengeblieben.

Hüxstraßenfest
Hüxstraßenfest

Lübecker Schulgarten
Die botanische Oase am Wakenitzufer. Der perfekte Kontrast nach dem Trubel der Altstadt an einem Samstagnachmittag. Mit Café!

Im Schulgarten
Im Schulgarten

Gänge und Höfe
Da gibt es noch viele, viele mehr als die auf der Webseite der Stadt Lübeck gelisteten Beispiele. Man sollte beim Erforschen allerdings stets beachten, dass dort Leute wohnen und man im Zweifel Privatgelände betritt.

Glandorps Hof
Glandorps Hof

Travemünde
An einem sonnigen Sonntag nehme man den Zug gegen halb 11 eintreffend, wenn möglich früher, und trete spätestens um kurz nach halb 4 auf gleichem Wege den Rückzug an. Dann klappt’s auch mit der Erholung.

Ruhe vor dem Sturm
Ruhe vor dem Sturm
Seebrücke
Seebrücke
Steilküste (unten)
Steilküste (unten)
Steilküste (oben)
Steilküste (oben)
Hic sunt Dracones
Hic sunt Dracones

Nicht geschafft habe ich (das Wetter war zu gut):

In letzterem bin ich zwar schon einmal gewesen, aber das ist über 15 Jahre her und ich kann mich gerade noch erinnern, wie fasziniert ich davon war. Außerdem läuft momentan eine Sonderausstellung über das Figurentheater und Paul Maar („Sams & Co. im Rampenlicht“). Es werden sogar Führungen mit dem Sams und Herrn Taschenbier angeboten.


Durch sachdienliche Hinweise haben zum Gelingen des Projekts „Gipfelflucht“ beigetragen: ellipsefeine_bildstoerung, HansW_MetzgerKellerblume, LButcherMaximilian, _Cluny_ und nicht zuletzt Anja, meine zauberhafte Airbnb-Gastgeberin. Vielen Dank euch allen!

In Concert: DenManTau im Knust

Es kommt nicht oft vor, dass ich auf der Straße eine Band mit eigenen Songs höre, die mich vom Fleck weg begeistert. Genau genommen ist das erst zweimal passiert. Das erste Mal ist ziemlich lange her, 1995 oder 1996 muss das gewesen sein. Die Truppe hieß Tonic (später Woodhall Four), stammte aus Großbritannien und gewisse Anklänge an die frühen Beatles waren nicht zu überhören. Der Bassist trug eine Brille im Stile der 60er, sah immer äußerst lässig aus und stand nicht neben, sondern auf seinem kleinen Verstärker. Bei den Konzerten in der Kölner Innenstadt drängelten sich die Menschen. Ich kaufte den Jungs eine CD ab; der Song „6:45am“ wurde zu meinem persönlichen Sommerhit. Bald gab es auch überdachte Auftritte, eine zweite Scheibe erschien. Leider verschwanden die vier kurz danach plötzlich von der Bildfläche. Später habe ich eine Hälfte des Quartetts wieder auf der Straße spielen sehen.

Das zweite Mal war im Januar 2014. Nach einem langen Elbspaziergang stieß ich an den Landungsbrücken zufällig auf DenManTau. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich andere Dinge im Kopf und völlig andere Musik auf den Ohren, aber an DenManTau konnte man nicht vorbeilaufen. Das Durchschnittsalter der Bandmitglieder konnte höchstens um die Mitte 20 betragen, dennoch standen da ganz eindeutig Profis auf dem Pflaster.

Ich hielt die Augen offen, verpasste aber in der Folge jeden weiteren Auftritt in Hamburg und Umgebung. Als DenManTau wenig später in die USA auswanderten, um „die erste Band auf dem Mond“ zu werden, ärgerte ich mich mächtig. „Die siehst Du nie wieder“, dachte ich, „außer, Du fliegst nach Kalifornien.“

Umso erfreuter war ich, als ich Anfang der Woche und somit gerade noch rechtzeitig von der Deutschlandtour unter anderem mit Station im Knust erfuhr.

Ich sag’s mal so: Zum Mond werden die fünf es wohl nicht schaffen. Aber alles andere drunter wär schon drin.

In Concert: Abschied von Sir Jeffrey Tate

Eigentlich mache ich das nicht.

Wenn ich auf dem Lotsenschoner No. 5 Elbe als Crew eingeteilt bin, bin ich als Crew eingeteilt. Das heißt unter anderem: Mindestens zwei Stunden vor Abfahrt an Bord zu sein und nach dem Anlegemanöver gemeinsam aufzuklaren. Noch vor dem Anlegebier und ohne sich ordentlich zu verabschieden fluchtartig das Schiff zu verlassen, war nach etwas mehr als 11 Jahren Vereinszugehörigkeit ein Novum und soll auch die Ausnahme bleiben. Ebenso nach einem schweißtreibenden Segeltag ungeduscht und nur notdürftig zurechtgemacht mit der großen Tasche unterm Arm in neuer persönlicher Bestzeit für die Strecke Sandtorhafen – Johannes-Brahms-Platz die Laeiszhalle zu entern.

Wäre da nicht das Abschiedskonzert für Sir Jeffrey Tate gewesen.

Nach zwei Orchesterkonzerten des damals noch NDR Sinfonieorchesters auf Kampnagel trieb es mich im September 2014 erstmalig zu den Hamburger Symphonikern. Zunächst des Programmes wegen: „Die Planeten“ von Gustav Holst hatte ich zuvor schon in Auszügen gehört und war nun darauf erpicht, das Werk in seiner Gesamtheit genießen zu können. Ich buchte einen Platz vorne rechts im 1. Rang und erwarb dadurch einen ungeahnten Nebeneffekt: Man kann von dort zwar nicht das Orchester in seiner Gesamtheit, dafür aber dem Dirigenten ins Gesicht sehen.

Was man während eines Konzerts in Sir Jeffrey Tates Mienenspiel erkennen konnte, hat Daniel Kühnel in seiner Trauerrede heute Abend besser in Worte gefasst, als ich es zu tun vermag. Insbesondere dieses erste Konzert bleibt für mich unvergesslich: Ich überwand die mittelschwere Befremdung ob der damals für mich noch ungewohnten Konzertsaal-Atmosphäre und des jedes denkbare Klischee erfüllenden Abo-Publikums um mich herum und war vollkommen fasziniert. Knapp zwei Monate später war ich wieder vor Ort. Dann nochmal (der Holmboe! der Sibelius!). Und wieder. Schließlich auch bei den Philharmonikern und den Stummfilmkonzerten. Als nächstes entdeckte ich das Schleswig-Hostein Musik Festival und mittlerweile sind Symphonie- und andere Orchesterkonzerte aus meinem musikalischen Jahreskalender nicht mehr wegzudenken.

Bei meinem letzten Konzertbesuch in der Laeiszhalle hatte mich die anfängliche und in der Hauptsache umgebungsbedingte Befremdung zwar wieder eingeholt. Dieser Umstand schmälert indes weder meine Bewunderung noch meinen Respekt und erst recht nicht meine Dankbarkeit gegenüber einer herausragenden Künstlerpersönlichkeit.

Fair winds, Sir Jeffrey. See you on the other side.