In Concert: Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra im Barbican Centre
Meine diesjährige Londonwoche (aka „London (Part III)“) hat ganz hervorragend angefangen: eine reibungslose Anreise, die perfekt gelegene Unterkunft und abends gleich los ins Barbican Centre.
Das LSO feierte dort nicht nur Saisoneröffnung, sondern auch den Einstand des neuen Chefdirigenten, Sir Simon Rattle. Und das ordentlich: Unter dem Titel „This is Rattle“ begann damit ein zehntägiges Programm mit Konzerten, Ausstellungen, Filmvorführungen und weiteren Veranstaltungen zu Person und bisheriger Laufbahn des 62-jährigen Briten. BBC Radio 3 hatte seine Zelte im Foyer aufgeschlagen, ein Kinderchor sang und die Firma Chapel Down, einer der LSO-Sponsoren, spendierte jedem Konzertbesucher zur Feier des Tages ein Gläschen Perlwein. Auch denen in der Holzklasse, wohlgemerkt. Leckeres Tröpfchen.
Das Eröffnungskonzert war mit „New Britain“ überschrieben, womit zum überwiegenden Teil neue britische Musik der letzten zwanzig Jahre gemeint war, darunter die Weltpremiere eines für den Abend eigens kommissionierten Stücks der schottischen Komponistin Helen Grime. Dieses und die Namen und Werke von Thomas Adès, Sir Harrison Birthwistle (ein Violinkonzert, als Solist war Christian Tetzlaff geladen) und Oliver Knussen waren allesamt komplettes Neuland für mich und bis auf die Grime’sche „Fanfare“ und „Asyla“ von Thomas Adès eher nicht mein Fall.
Zum Abschluss hatte Sir Simon Rattle aber die „Enigma Variations“ von Edward Elgar gewählt. Elgar live in London, gespielt vom London Symphonic Orchestra – allein die Vorstellung verursachte mir im Vorwege schon Gänsehaut. Und völlig zu Recht: Insbesondere den „Nimrod“ werde ich so schnell nicht vergessen.
Den Rest des Aufenthalts werde ich wohl nach meiner Rückkehr kompaktverbloggen. Da steht noch einiges an, ich werde mit dem Schreiben kaum nachkommen. Hach, London!
In Concert: James Rhodes in der Elbphilharmonie
Bevor es im Londonaufbruch noch untergeht, schnell zwei Worte zum heutigen Konzert von James Rhodes in der Elbphilharmonie: Das war so ungefähr wie damals auf Kampnagel, nur eben in der Elbphilharmonie.
Auf der einen Seite bedeutet das ein wesentlich größeres Publikum und diese ganz andere, besondere Akustik und Atmosphäre des Großen Saales, auf der anderen Seite aber auch gesalzene Ticketpreise. Weswegen ich in luftiger Höhe (16 U, Achtung, wichtiger Hinweis: Dafür muss man wenigstens einigermaßen schwindelfrei sein!) saß. Aufgrund der Dimension war die Veranstaltung zudem nicht annähernd so intim wie seinerzeit in der K2.
Welches Konzert mir besser gefallen hat? Schwierige Entscheidung. Fragt mich morgen nochmal. Ach nein, lieber nächste Woche. Morgen Abend sitze ich nämlich im Barbican Centre und lausche dem Saisoneröffnungskonzert des London Symphony Orchestra. Das ist gleichzeitig das Debüt von Sir Simon Rattle als neuem Chefdirigenten des LSO und – sorry, Mr. Rhodes, Verzeihung, Elphi – das wird ziemlich sicher mein musikalisches Highlight mindestens des Monats werden.
Internationales Sommerfestival 2017 auf Kampnagel
Ich bin seit 2014 großer Fan des Internationalen Sommerfestivals. Seinerzeit lockte mich Chilly Gonzales mit „The Shadow“ auf das Kampnagel-Gelände. Von der Festivalatmosphäre angefixt, hangelte ich mich im Anschluss von einem Highlight zum nächsten, darunter „Nufonia must fall“ von Kid Koala und mein allererstes Orchesterkaraoke mit den Jungen Symphonikern.
Da ist die Sommerstimmung, der jährlich neu formierte Avant-Garden und das große Foyer, in dem Künstler, Mitarbeiter und Besucher bunt durcheinander wuseln – bisweilen derart bunt, dass man sich trotz Verabredung verpassen kann -; alle Sorten Kunst kommen vor, mit vielen Sorten Mensch von überallher und die Kollegen von cohen + dobernigg offerieren die dazu passende Literatur. Mit einem Wort: Es ist großartig.
In diesem Jahr hatte das Sommerfestival ein Gesicht: Unter dem Hashtag #Juan2017 und mit dem Slogan „Mit Sicherheit unsicher“ dominierte das Konterfei des Kampnagel-Spitzenkandidaten Juan Dominguez das Gelände und gefühlt auch die halbe Stadt. Ein schönes Lehrstück darüber, wie man mittels massiver Plakatierung in kürzester Zeit gesichtsbekannt werden kann.
Der Festival Avant-Garden, gestaltet vom Studio für Experimentelles Design der HFBK Hamburg, glich einem Spiegelkabinett: Hinter den großen Wänden war unter anderem auch die Gastronomie versteckt, was einige Orientierungsprobleme mit sich brachte.
Nicht im Bild: Die splitternackten Skulpturendarsteller, die wetterbedingt zu zeitweisen Ausflügen in die Innenräume gezwungen waren. Die Aktion irritierte und amüsierte gleichermaßen. Den Ausruf „Huch, die sind ja echt!“ hörte ich mehr als einmal.
Meine Programmauswahl ist zwar auch nach vier Jahren immer noch sehr musiklastig, ich meide konsequent Performances mit (un-)freiwilliger Zuschauerbeteiligung und suche in erster Linie nach Unterhaltung und nicht nach Auseinandersetzung oder gar Provokation. Aber ganz allmählich verschiebt sich der Schwerpunkt von Musik Richtung Tanz und Theater. Es hilft dabei enorm, dass sich viele Festivalveranstaltungen nicht an gängige Genregrenzen halten.
Michael Clarke Company: To a Simple, Rock ’n‘ Roll… Song
Wer wie ich ein Ticket für die Deutschlandpremiere am ersten Festivaltag ergattert hatte, konnte als Nebeneffekt ein Gläschen Sekt zu den Eröffnungsredebeiträgen im Avant-Garden genießen. Gut zu wissen! Ich merke es mir fürs nächste Jahr.
Im Vorfeld war viel von einer Hommage an David Bowie die Rede. Tatsächlich wurde nur der letzte von insgesamt drei Akten mit der Musik Bowies untermalt. Die einzelnen Akte wurden durch eine kurze und eine lange Pause unterbrochen, obwohl das Stück mit einer knappen Stunde Nettolaufzeit nicht sonderlich lang war. Das war der Konzentration auf das Gesamtkunstwerk nicht förderlich. Mir ist es nicht gelungen, dem roten Faden zu folgen, der dem Projekt zweifelsohne zugrunde liegt. Dazu kamen verwirrende Informationen im Programmheft, bestes Beispiel: Dafür, dass der zweite Akt aus drei Teilen bestehen sollte, war er meines Erachtens viel zu kurz. Ist jetzt schon die große Pause oder kommt da noch was? Ich war mit diesem Fragezeichen nicht allein und die Begeisterung, die die Weltpremiere im Londoner Barbican Centre ausgelöst hatte, konnte ich nicht teilen. Mir war es zu glatt, zu streng und trotz der (kalkulierten?) Wackler im ersten Teil zu perfekt – um das böse Wort „langweilig“ zu vermeiden.
Socalled & Friends: The 2nd Season featuring Fred Wesley
Von Langeweile konnte bei „The 2nd Season“ dagegen nicht die Rede sein. Dafür sorgte allein schon das Bühnenbild: Auf zweieinhalb Ebenen waren Puppenspieler, Tänzer und Musiker untergebracht, wobei dem Posaunisten Fred Wesley als Darsteller und Star des Abends ein herausgehobenes Plätzchen gewissermaßen zwischen den Welten reserviert war. Die Story hatte keine sonderliche Tiefe, aber Umsetzung und musikalisches Level verdienten das Prädikat Weltklasse.
Unter den Musikern war unter anderem das Kaiser Quartett anzutreffen, bekannt durch die Auftritte mit Chilly Gonzales (siehe oben) und dieser Tage auch anderweitig viel beschäftigt. Zumindest in einem Punkt mussten sich die vier Streicher auf Kampnagel nicht umgewöhnen, saß doch mit Josh Dolgin aka Socalled ebenfalls ein Kanadier am Flügel und gab den Ton an.
Philippe Quesne: Die Nacht der Maulwürfe
Es hilft beim Genuss eines Theaterabends ungemein, wenn man von vorneherein weiß, dass das Stück keine Handlung hat. „The Night of the Moles“ ist simpel, derb und grotesk, aber darüber ließ sich gut hinwegsehen: Bühnenbild, Requisite, Beleuchtung, Projektionen und vor allem Kostüme sowie die schauspielerischen und musikalischen Darbietungen (das Theremin!) boten ausreichend Faszination.
Neben den Auftritten in der K6 machten die Maulwürfe im Rahmen einer Parade außerdem noch Teile der Hamburger Innenstadt und die Elbphilharmonie-Plaza unsicher.
Wolfgang Voigt presents GAS live
Apropos Elbphilharmonie. Als ich am zweiten Festivalsonntag einen nahezu verwaisten Avant-Garden vorfand, hatte ich kurzzeitig die terminliche Überschneidung mit dem MS Dockville in Verdacht. Dann erst fiel mir wieder ein, dass die Elbphilharmonie in diesem Jahr erstmals Spielstätte des Sommerfestivals war. Normalerweise hätten zu diesem Zeitpunkt endorphinbeglückte Besucher des Orchesterkaraokes das Kampnagel-Foyer geflutet. Stattdessen herrschte dort gähnende Leere, denn das Karaoke fand in der Elphi statt und von der Schwierig- bzw. Unmöglichkeit, an die Tickets zu kommen, möchte ich erst gar nicht anfangen. Künftig werde ich also wohl nicht nur die Kampnagel-Konzerte des NDR Elbphilharmonie Orchesters schmerzlich vermissen müssen. Sehr schade.
Wolfgang Voigt präsentierte sein Musikprojekt GAS in der kleinen K2, die trotz der Konkurrenzveranstaltung am prominenteren Ort einigermaßen gut gefüllt war. Die Mischung aus Projektionen und Liveelektronik war grundsätzlich stimmig und stimmungsvoll, aber ein bisschen weniger Wumms in der Anlage hätte den Ohren gutgetan. Ich wankte anschließend weniger narkotisiert als gerädert aus dem Saal.
Eisa Jocson: Your Highness
Mein Beweggrund für den Besuch von „Your Highness“ war reine Neugier: Welche Form erhält ein zeitgenössisches Projekt, das sich mit Ballett- und Disneyprinzen bzw. -prinzessinnen beschäftigt? Die Antwort: Eine überraschend klassische, aber als Mittel zum Zweck. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer tanzten und ironisierten gleichzeitig Standards aus klassischem Ballett und Versatzstücke der Disney-Welt im fließenden Übergang und das in einer technisch nahezu perfekten Ensembleleistung. Beklemmend und faszinierend. Kostüme und Bühnenbild taten das Übrige dazu. Einziger Kritikpunkt: Etwas kürzer hätte es ausfallen können. Es gab einen natürlichen Schlusspunkt, der dann doch keiner war. Das mag als taktische Publikumsverwirrung gedacht gewesen sein, schmälerte aber die Wirkung des Stücks ein wenig.
Verpasst habe ich neben dem Orchesterkaraoke und dem Konzert von Rufus Wainwright (Ach! Elphi!) leider auch Mocky and Friends. Wenn ich geahnt hätte, dass Chilly Gonzales dort als Gastmusiker… Aber es wird wohl nicht sein letzter Auftritt an der Jarrestraße gewesen sein. Und der nächste Sommer kommt bestimmt.
In Concert: Das Avishai Cohen Trio in der Elbphilharmonie
Ich war gerade beim Avishai Cohen Trio in der Elbphilharmonie und kann’s kurz machen:
- Mehr Bass geht nicht – zumindest, was die akustische Variante angeht,
- mehr Jazz beinahe auch nicht,
- der Sound war diesmal hervorragend,
- ich habe einen neuen Lieblingsplatz. Leider teuer, aber heute jeden Cent wert.
In Concert: GoGo Penguin mit „Koyaanisqatsi“ in der Elbphilharmonie
Als ich den Großen Saal der Elbphilharmonie im Februar dieses Jahres zum ersten Mal betrat, schoss mir durch den Kopf: „Filmkonzerte werden wohl weiterhin in der Laeiszhalle stattfinden. Das geht hier ja höchstens mit einem Videowürfel.“ Als dann aber das Programm des Elbphilharmonie Sommers veröffentlicht wurde, standen sehr wohl Filmvorführungen mit Livemusikbegleitung auf der Agenda, gleich mehrfach sogar. Umso gespannter war ich auf die Umsetzung.
Die Lösung des Dilemmas: Hinter der Leinwand und da, wo man sie nicht wenigstens in Teilen einsehen kann, werden schlicht keine Plätze besetzt. Das war mir schon beinahe zu profan. Und ein bisschen schade war es auch für die, denen es genügt hätte, GoGo Penguin spielen zu hören. Man hätte sicher noch einige Hörplatztickets verkaufen können.
Wobei deren Inhabern dann verborgen geblieben wäre, wie brillant das Trio den Film von Godfrey Reggio musikalisch untermalt hat. Nicht nur bezüglich der Klangfarben und des Charakters der jeweiligen Stücke, sondern insbesondere des in nahezu jeder Szene perfekten Timings. Schade nur, dass man den Sound nur als blechern bezeichnen konnte. Ein ganz und gar gläsernes Klangbild, ja, kann man machen, vielleicht war es als Stilmittel sogar so gewollt. Aber klingt dann halt bescheiden.
Bei meinem zehnten Elphi-Konzert wird es ein anderes Jazztrio sein, ohne Film und dafür hoffentlich mit mehr Wärme. Ich werde berichten.
Glaube – Liebe – Honig
Ich habe es wieder getan und mich zu einem Heimspiel verführen lassen. Dabei habe ich zum ersten Mal den FC St. Pauli live & in Farbe Tore schießen sehen. Sogar gleich zwei! Eigentlich drei – na gut, sagen wir zweieinhalb. Leider landeten auch die Dresdner zwei Treffer. Unterm Strich passte es zur Partie, Details gibt es drüben bei Stefan und Übersteiger- wie Magischer FC-Blog werden sicher bald nachziehen.
Dass das FC St. Pauli-Universum ein sehr besonderes ist, ist keine neue Erkenntnis. Auch für mich war es das nicht. Selbst mittendrin zu stehen statt es nur aus zweiter Hand zu wissen, macht allerdings einen riesigen Unterschied. Ich habe zwar keinen Vergleichsmaßstab, aber was ich bisher im Umfeld der Gegengeraden beobachtet und erlebt habe, ist wahrscheinlich nicht die Norm. Es ist quasi unmöglich, sich dem zu entziehen. Und warum sollte man auch.
Fankultur ist dabei das eine, gesellschaftliches Engagement das andere, und beides tritt beim FC St. Pauli sowohl Hand in Hand als auch in allen denkbaren Facetten auf. So stieß ich bei meinen braunweiß-motivierten Streifzügen durchs Netz auf einen originellen Pressetermin, nämlich den anlässlich der diesjährigen Abfüllung des Ewaldbienenhonigs („Hamburg blüht braun-weiß“). Ewaldbienenhonig, das muss man sich wortwörtlich auf der Zunge zergehen lassen, die neue Ernte, ab jetzt zu erwerben im Fanshop; so beliebt, dass die Abgabe auf zwei Gläser pro Person limitiert ist. Die rund 160.000 Bienen wohnen zurzeit neben der Haupttribüne des Millerntor-Stadions und produzierten in diesem Sommer immerhin 67kg Honig. Mit dem Projekt will der FC St. Pauli auf das Bienensterben aufmerksam machen.
„What’s not to love“, wie der Engländer sagen würde. Was kostet eigentlich die Vereinsmitgliedschaft?
A Summer’s Tale 2017
Da musste ich also stolze 44 Jahre alt werden, um das erste Mal „so richtig“ ein Festival zu besuchen. „So richtig“ im Sinne von alle Tage morgens bis abends da sein und auf dem Gelände campen – das eine, inzwischen eh verjährte MS Dockville-Tagesticket kann man wohl nicht dazuzählen. Mit „A Summer’s Tale“ bin ich gleich von null auf Zweihundertfünfzig gegangen und da liegt die Latte jetzt: ziemlich weit oben.
Natürlich hätte ich von Hamburg aus auch pendeln können. Grundsätzlich erschien mir das Shuttlebuskonzept schlüssig, nur erweitert leider weder die Deutsche Bahn noch der metronom seinen Takt, bloß weil irgendwo am buchstäblichen Arm der Heide ein Festival stattfindet. Was dumm ist für die, die auch den letzten Musikact des jeweiligen Tages sehen wollen. Das ist mit den Zugabfahrtzeiten leider gar nicht kompatibel. Also organisierte ich kurz entschlossen ein Leihzelt, buchte ein Kombiticket mit Komfort-Camping und bekam glücklicherweise obendrein noch eine Mitfahrgelegenheit angeboten.
Insbesondere den Campern sei empfohlen, die Gepäckbestimmungen genau zu studieren. Der Veranstalter hat unter anderem ein striktes Glasverbot verhängt, was sich keineswegs nur auf Wein-, Bier- und andere Flaschen bezieht. An der Kontrolle mussten beispielsweise auch Marmeladen- und Pestogläser abgegeben werden. Einerseits verständlich: Niemand möchte Glasscherben auf den Plätzen haben, weder die Festivalteilnehmer noch die, die das Gelände ansonsten nutzen. Andererseits ist Nachhaltigkeit ein großes Thema bei „A Summer’s Tale“ und zur Plastikmüllvermeidung trägt eine solche Strategie wenig bei.
Andere Tücken im Detail waren schwieriger zu recherchieren. So manches Angebot entpuppte sich erst vor Ort als kostenpflichtig und teilweise auch recht kostspielig.
Knifflig war auch die Sache mit den Workshops. Ein Teil der Plätze konnte online gebucht werden und um eines der übrigen Tickets zu ergattern, musste man sich mit einer Vorlaufzeit von zwischen einer halben und einer Dreiviertelstunde in die sich zuverlässig bildende Schlange einreihen. Das Prinzip fand auch bei Programmpunkten Anwendung, die zwar keiner Anmeldung bedurften, für die es aber sehr wohl eine maximale Teilnehmerzahl gab. Die Information darüber hätte so manchem Besucher Frustration erspart, fehlte aber sowohl auf der Webseite als auch in der (ansonsten fabelhaften) Festival-App.
Dass die Abgewiesenen dennoch zumeist gelassen blieben, sagt eine Menge über die Grundatmosphäre des Festivals aus. „Entspannt“ ist wohl das am häufigsten genannte Adjektiv, wenn es darum geht, „A Summer’s Tale“ in einem Wort zu beschreiben. Ich habe noch keine Veranstaltung mit Familien, Grüppchen, Paaren und Einzelbesuchern in derart friedlicher Koexistenz erlebt. Für kleine und kleinste Festivalteilnehmer gab es eine große Auswahl an Beschäftigungsmöglichkeiten, ohne dass der Eindruck entstand, dass es sich um ein reines Familienevent handelte. Bei den Konzerten bis spät in die Nacht tobten Kinder durch die Menge, zumeist mit knallbuntem Gehörschutz bestückt, und niemand störte sich daran – ganz im Gegenteil.
Heile Welt in der Heide also und tatsächlich wurde sogar gebatikt. Darüber hinaus war ein Großteil des Programms jedoch erfreulich handfest. Auch beim kulinarischen Angebot standen zwar Bio und regional im Vordergrund, aber fleischlos oder gar vegan musste sich niemand ernähren, der das nicht wollte. Es wäre insbesondere schade gewesen um die Sandwiches von Frau Dr. Schneider’s Grilled Cheese Wonderland, die sauleckeren Gnocchi von Santa Mamma (mit extra viel Parmesan) und den Don Caramello-Becher aus der Quarkerei.
Da das leibliche Wohl auf diese Weise gesichert war, blieb umso mehr Zeit, sich in der Vielfalt des Angebots treiben zu lassen. Ich fabrizierte Sommerrollen mit Nina Sonntag vom Hamburger Herdgeflüster, begab mich auf Kräuter-, Wald- und Barfußwanderungen, lernte die Line sowie fünf verschiedene Moves beim Madison-Workshop, scheiterte beim Massenkaraoke kollektiv an „Bohemian Rhapsody“, besuchte Lesungen von Heinz Strunk und Stevan Paul und hörte unter anderem Bernd Begemann & die Befreiung, Die Sterne, Dan Croll, PJ Harvey, Pixies, Conor Oberst, Birdy, The Notwist, Franz Ferdinand, Rocko Schamoni, den Electric Swing Circus, Judith Holofernes, Element of Crime, die Stereo MC’s und Feist.
Dabei lernte ich zum einen, dass ich weder Rocko Schamoni noch Heinz Strunk lustig finde, mir die Pixies zu anstrengend sind und ich mich für Franz Ferdinand immer noch nur mäßig begeistern kann. Auf der anderen Seite entdeckte ich zu meiner großen Freude, dass The Notwist tatsächlich auch live funktionieren (Und wie! Hammer!). Zu den Highlights zähle ich außerdem die Auftritte von Dan Croll, PJ Harvey, dem Electric Swing Circus, Judith Holofernes, Element of Crime und vor allem Leslie Feist, die den perfekten Abschluss eines nahezu perfekten Festivals bildete.
Sogar die Wettergötter hatten ein Einsehen: Bis auf leichte Niederschläge in der Nacht zum Donnerstag, ein paar stärkere Windböen am Freitag, einem Schäuerchen am Samstagnachmittag und einem kräftigen Platzregen am frühen Samstagabend war es tatsächlich Sommer. Vier Tage lang.
Nächstes Jahr sehr gerne wieder.
In Print: „Watching the English“ von Kate Fox
Was ich gerade lese und sehr empfehlen kann: „Watching the English“ von Kate Fox.
Aus der Rolle der teilnehmenden Beobachterin heraus versucht die Sozialanthropologin in diesem Buch, typisch englische Verhaltensweisen herauszuarbeiten und zu analysieren. Dabei befolgt sie durchgehend die wichtigste der selbst formulierten Regeln für „Englishness“: sich selbst niemals allzu ernst zu nehmen („The Importance of Not Being Earnest Rule“).
Abgesehen vom Unterhaltungswert und (Sprach-)Lerneffekt – auch als mittlerweile einigermaßen fortgeschrittene Leserin habe ich noch einiges an Vokabular nachschlagen müssen – entpuppt sich die Lektüre gerade für den Außenstehenden als kulturell sehr erhellend. Bei so mancher selbstironisch gemeinten Anspielung in britischen Filmproduktionen, Romanen und Songtexten habe ich bisher höchstens geahnt, dass es sich um eine solche handelt. Durch „Watching the English“ vervollständigt sich das Bild.
Being English means always having to say that you’re sorry.
Die Sache hat darüber hinaus einen hohen praktischen Nutzwert: Das neu erworbene Wissen wird mir sowohl im Berufsleben als auch bei meinem nächsten Londonbesuch sehr nützlich sein. Mir gehen wenigstens drei schlimme Fettnäpfe auf, in die ich während der letzten Inselaufenthalte halbwissentlich gestolpert bin. Ohne ins Detail gehen zu wollen: Mindestens einer davon ist mir auch nachträglich noch unfassbar peinlich. So sehr peinlich, wie laut Kate Fox eigentlich nur den Briten etwas peinlich sein kann. Aber eine familienforschende Großtante mütterlicherseits vermutete unsere Clanwurzeln ja einst im verarmten englischem Landadel. Überraschen tät’s mich nicht.
Last but not least bringt mich das Buch auf völlig neue Reiseideen und -ziele. So werde ich beispielsweise unbedingt irgendwann einmal ein englisches Pferderennen besuchen müssen.
Wem das Studium von „Watching the English“, das bisher leider nicht in deutscher Sprache erschienen ist, als zu herausfordernd erscheint, möge sich alternativ den „Very British Problems“ zuwenden, vorzugsweise in der 140-Zeichen-Version. Das mag zwar schon wieder arg kurzgefasst sein. Aber als Comic relief taugt diese Variante allemal.
Sonntagsrunde
Inzwischen bin ich bei meinen Laufbemühungen wieder auf dem Stand „15km am Stück sind mühsam, aber machbar“ angelangt. Wenn irgend möglich beschränke ich mich daher sonntagmorgens nicht mehr auf den Stadtpark, sondern trabe an dessen südlichen Rand entlang weiter bis zur Alster, einmal links um ebenjene herum und wieder zurück durch den Stadtpark nach Hause.
Die Alsterrunde ist eine sensationell schöne Strecke, aber zugleich auch Naherholungsgebiet und Laufsteg und entsprechend gut frequentiert. Schlau ist, wer möglichst früh startet. Was heute Morgen leider wieder nicht geklappt hat. Diesmal nicht etwa, weil ich zu spät aus den Federn kam, sondern weil ich es für sicherer hielt, den Durchzug des Gewitters abzuwarten. Zu eindrucksvoll ist mir noch das Bild vom Freitagabend im Gedächtnis: das Rettungssanitätergrüppchen, heftig bemüht um einen kollabierten Jogger. Ein Teil von mir hofft ja immer noch, dass das ein Training war. Da standen verdächtig viele Retter herum, darunter ein hoher Anteil an jungen Leuten. Andererseits hätte ich mich als Übungsobjekt nicht so bearbeiten lassen. Eine Puppe war das jedenfalls nicht.
Man mische das mit der weiterhin ungelösten Arbeitssituation sowie dem mehr als unbehaglichen Gefühl, Bilder vom „eigenen“ Edeka-Markt in den Abendnachrichten zu sehen und die entsprechende Meldung dazu zu hören und erhalte einen sehr verhaltenen Wochenendstart.
Apropos Edeka. Während ich nach absolviertem Sonntagslauf beim Bäcker schräg gegenüber meine Kuchenbelohnung erstehe, steht vor dem Laden ein buntgemischter Chor und singt „We shall overcome“.
One sincerely hopes so.