#MeToo? Nein. Oder doch?

Es hat eine Weile gedauert, bis ich auf den Hashtag #MeToo aufmerksam wurde, unter dem in den letzten Wochen weltweit Frauen via Twitter, Facebook und andere Plattformen erlittene sexuelle Belästigung öffentlich machten. Ich fühlte mich zwar betroffen, aber zunächst nur im solidarischen Sinne.

Meine eigenen Erlebnisse hielten sich bislang im Rahmen. Ich habe lange in einer männerdominierten Branche*) gearbeitet, in der ich es mir nicht leisten konnte (und wollte!), übersensibel auf Sexismus und diskriminierendes Verhalten zu reagieren. Manches davon basierte auf schlichter (Kommunikations-)Unsicherheit und das meiste ließ sich mittels wohldosierter Gegenschüsseargumente oder durch demonstrierte Fachkompetenz regeln. Ich erzähle immer noch gerne die Geschichte des Herrn im besten Alter, den ich eines Tages am Telefon hatte.

Ich: „Firma XY, mein Name ist Dirkwinkel, was kann ich für Sie tun?“
Er: „Guten Tag, mein Name ist Z. Können Sie mich mit einem kompetenten Herrn aus Ihrer Seekartenabteilung verbinden?“
Ich: „Würden Sie auch mit einer kompetenten Dame vorlieb nehmen?“

Eine Erwiderung, die bei dem Mann ebenso Begeisterung wie Verlegenheit auslöste; er entschuldigte sich formvollendet und wir schieden als Freunde.

Ansonsten waren da die Kusssmileys per WhatsApp aus Schottland – die andererseits einen nicht geringen Unterhaltungswert hatten und zu meiner Erleichterung lediglich mit Hafen- und Essensbildern garniert waren**) -, ein schmieriger Brief, diverse „augenzwinkernde“ Törneinladungen und als Krönung dieses eine arme Würstchen, das mir weiland auf der hanseboot meckernd lachend seinen Spazierstock auf die berockte Rückfront setzte. In allen Fällen hatten die Absender den größeren Schaden, schon weil ich, wo nötig, Unterstützung suchte und zum Glück auch immer fand.

Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar: #MeToo, das lässt sich in meinem Fall vielmehr über die Dinge definieren, von denen ich mich abhalten lasse. Verhaltensregeln, die ich für mich aufgestellt habe, um ja nicht in brenzlige Situationen zu geraten. Ich lasse das leichte Sommerkleid und den schicken Bürodress öfter im Schrank, als ich sie gern tragen würde. Ich laufe auch im Dunkeln, aber nach 21 Uhr trete ich grundsätzlich keine Runde mehr an, außer im Hochsommer, wenn der Hamburger Stadtpark bis tief in die Nacht bevölkert ist. Wenn ich allein und in freier Wildbahn unterwegs bin, meide ich Blickkontakte mit unbekannten Männern oder breche sie oft vorzeitig ab und selbst auf neutrale Gesprächsanbahnungen reagiere ich zumeist schroffer als nötig. Ich wäre auch unter diesem Gesichtspunkt nicht zwingend auf die Idee gekommen, Mitglied eines Fußballvereins zu werden, wüsste ich nicht um eines: Der, der einer Frau im FC St. Pauli-Umfeld dumm kommt, riskiert den Verlust gleich mehrerer Gliedmaßen. Ich umgehe bestimmte Wege, wenn ich allein unterwegs bin und habe nicht wenige Länder von meiner Reiseliste gestrichen – die Stadt Paris muss ich nach meinen Erfahrungen vom Mai 2016 wohl leider auch dazuzählen. Von Männern gemachte Komplimente lösen bei mir grundsätzlich Misstrauen aus, selbst wenn ich sie gerne annähme. Und und und – die Liste ist erschreckend lang. Das Schlimmste daran: Die meiste Zeit meines Lebens geschah dies unbewusst. Mir war lange gar nicht klar, dass ich mich einschränke aus Angst davor, Männern Angriffspunkte zu bieten.

Je älter ich werde, desto mehr stelle ich mein Verhalten infrage. Wie viele gute Gespräche und tolle Erlebnisse, wie viele Bekannt-, Freund- oder gar Liebschaften habe ich verpasst aufgrund der selbst auferlegten Vorsichtsmaßnahmen? Ist es mir möglich, aus dieser Sicherheitszone zu treten und meinen Aktionsradius zu erweitern, offener zu werden? Welches Risiko gehe ich damit ein?

Fragen, von denen ich wünsche, sie mir nicht mehr stellen zu müssen. So gesehen: Ja. Doch. #MeToo.


*) Nein, nicht in dieser Firma. Aber das Video ist hübsch-hässlich repräsentativ: Man beachte den Abschnitt ab 3:40.

**) Stichwort „rauschende Hecksee“, die ehemaligen Kollegen und sonstige Eingeweihte werden sich erinnern

Eins

Was die Historie des Susammelsuriums angeht, habe ich ein wenig geschummelt. Das ist so auch auf der Über mich-Seite ausgewiesen:

Alle Beiträge bis einschließlich 20. Oktober 2016 sind ursprünglich für und auf Facebook und Twitter entstanden. Um sie blogtauglich zu machen, habe ich manche Texte an der ein oder anderen Stelle leicht modifiziert.

Erst am 25. 10. 2016 ist der erste originale Blogtext online gegangen, nach dem Konzert von James Rhodes auf Kampnagel nämlich. Das zählt doch als Geburtsdatum, oder?

Happy Birthday, Susammelsurium!

London (Part III): Tag 6

Eigentlich gedachte ich, in dieser Woche komplett internetlos zu sein. Aber nun habe ich doch welches, WLAN sogar, was mir ermöglicht, mich um Tag 6 der London-Nachlese zu kümmern. Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Beim Frühstück kann ich beobachten, wie auf dem Queens Lawn der Farmer’s Market aufgebaut wird. In South Kensington finden wöchentlich zwei Märkte statt. Der Dienstagsmarkt auf dem Gelände des Imperial College besteht fast ausschließlich aus Fressständen und so richtig kommt die Sache wohl erst zur Mittagszeit in Fahrt.

Mein erster Weg führt mich danach zur 99 Kensington High Street, um den Besuch der Roof Gardens nachzuholen. Am Dienstag, so hatte uns der London Walks-Guide ein paar Tage zuvor verraten, seien die Gärten öffentlich zugänglich, was auch die Website bestätigt.

The Roof Gardens
The Roof Gardens

Die Kensington Roof Gardens wurden zwischen 1936 und 1938 von Ralph Hancock im Auftrag des damaligen Besitzers und Erbauers des Gebäudes angelegt und sind in drei Themenbereiche aufgegliedert: den spanischen, den Tudor- und den „English Woodland“-Garten. Die Anlage ist im Grundsatz unverändert erhalten. Sieben Bäume stammen sogar noch aus der Erstbepflanzung.

English...
English…
... Woodland
… Woodland

Morgens um halb elf herrscht in den Gärten noch die Ruhe vor dem Sturm, was vortrefflich durch die hier lebenden Flamingos demonstriert wird.

Langschläfer
Langschläfer

Wahrscheinlich keine dumme Strategie: Es bedarf nur wenig Phantasie, sich die rauschenden Feste vorzustellen, die hier oben mutmaßlich zu späten und sehr späten Tageszeiten gefeiert werden. Das dürfte auch Auswirkungen auf den Schlafrhythmus der tierischen Bewohner haben.

Als Nächstes nehme ich mir das Natural History Museum vor. Tags zuvor hatte ich mir dazu bereits die Museums-App aufs Telefon gepackt, in der verschiedene Hausdurchgänge vorgeschlagen werden und mit deren Hilfe die Orientierung in den verwinkelten Räumlichkeiten erheblich leichter fällt. Ich entscheide mich für den „Dinosaur Trail“, will aber zuvor einen Rundgang durch die prächtige Hintze Hall machen.

Hintze Hall

Hintze Hall

Dort werden mittels verschiedener Objekte und kleinerer Schaukästen Geschichte und Arbeitsbereiche des Museums vorgestellt, der dazu in der App abspielbare Audioguide wurde von niemand geringerem als Sir David Attenborough eingesprochen. Als Highlight entpuppt sich hierbei die Cadogan Gallery, in der die Schätze des Hauses versammelt sind, darunter das Fossil eines Archaeopteryx, der erste jemals gefundene Schädel eines Neandertalers, je ein Stückchen Meteorit- und Mondgestein, die Schale eines von Robert Falcon Scott auf seiner Antarktismission höchstpersönlich aufgesammelten Kaiserpinguin-Eis und ein Exemplar der Erstausgabe von Charles Darwins „On the Origin of Species“.

Nach einem spontan eingeschobenen Cream Tea im Central Café widme ich mich schließlich dem Startpunkt des „Dinosaur Trail“, der „Dinosaur Gallery“. Deren Hauptattraktion, der mechanische Tyrannosaurus Rex, hat ausgerechnet heute einen freien Tag.

Under Maintenance
Under Maintenance

Die Gallery, so stelle ich schnell fest, besteht im Wesentlichen aus Abgüssen und Modellen. Die echten Fossilien sind im übrigen Haus verteilt, was ein weiteres Argument dafür ist, die Besucherführung der App zu nutzen. Grob dem Saurierpfad folgend, entdecke ich am Rande noch zwei Preziosen: Die „Images of Nature“ Gallery, in der wechselnde Ausstellungen von Illustrationen und Fotografien gezeigt werden und den Mineralienraum.

Verständlicherweise wird der größte Teil des Museumsbestands in Depots verwahrt. Würde man beispielsweise die Sammlungen der Cook-Reisen dauerhaft dem Besucherstrom aussetzen, wäre das mit dem konservatorischen Auftrag wohl nur schwer vereinbar. Mal abgesehen davon, dass nicht annähernd genügend Fläche zur Verfügung steht. Man kann aber online in diesen und anderen nicht ausgestellten Beständen stöbern. Sehr lesenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Museums-Blog, insbesondere die Einträge der Bibliothek (Kategorie „Library and Archives“).

Nach einer nachmittäglichen Pause im Quartier begebe ich mich erneut ins V&A, um mir die Räume zum Thema „Theatre & Performance“ anzuschauen. Diese sind zwar durchaus sehenswert, gefallen mir aber nicht ganz so gut wie andere Bereiche des Museums. Leider befindet sich die Sonderausstellung „Opera: Passion, Power and Politics“ noch im Aufbau. Sie wird erst am 30. September eröffnen.

Albert
Albert
Dem Albert seine Halle
Dem Albert seine Halle

Anschließend geht es in die Royal Albert Hall. Das Konzertangebot ist unmittelbar nach den BBC Proms zwar ziemlich übersichtlich, fußläufig zur Hall zu wohnen – meiner Konzertlocation des Jahres 2016! – und diese nicht zu besuchen, erschien mir dennoch undenkbar. Ich hatte mich im Vorfeld für das Classic FM-Filmmusikkonzert mit dem Bournemouth Symphony Orchestra unter der Leitung von Pete Harrison entschieden. Der Kontrast zu „This is Rattle“ fällt deutlich aus und zieht sich durch die gesamte Veranstaltung. Von der Gestaltung des Programmhefts, der Beleuchtung und den Pyroeffekten (!) über Moderation und Sponsorenpräsentation bis hin zu Auswahl und Vorstellung der Solisten, alles wirkt ein wenig dick aufgetragen. Dazu passt, dass ich mir mit meiner (moderat zusammengestellten) Konzertbekleidung in der aus künstlerischer Sicht wesentlich elitäreren Veranstaltung im Barbican noch „slightly overdressed“ vorgekommen war, für den Classic FM-Abend dagegen problemlos noch ein bis zwei Briketts mehr hätte auflegen können.

Ich sitze im „Rausing Circle“, auf vergleichsweise billigen Plätzen also, die nichtsdestotrotz einen guten Blick auf das Orchester gewähren. Das BSO macht seine Sache sehr ordentlich. Ich schwelge in den John Barry-Stücken, freue mich unter anderem über die „Glohrreichen Sieben“, „Lawrence of Arabia“, „Lord of the Rings“, das John Williams-Medley und die „Indiana Jones“-Zugabe und wünsche mir lediglich bei den „Adagio for Strings“ von Samuel Barber kurzfristig die LSO-Streicher und die Barbican-Akustik zurück. Gerade auf den oberen Rängen merkt man doch, dass die Royal Albert Hall (of Arts and Sciences) im Grunde kein Konzertsaal, sondern eine Mehrzweckhalle ist.

Apropos Konzertsaal: Dem Vernehmen nach betreibt Sir Simon Rattle zurzeit offensiv den offenbar schon seit langem durch die Londoner Musikszene geforderten Bau eines neuen Hauses, welches in unmittelbarer Nachbarschaft des Barbican Centre auf dem jetzigen Gelände des Museum of London entstehen soll. Das wiederum zieht voraussichtlich 2021 in neue Räumlichkeiten am Smithfield General Market. Die Pläne sind durchaus nachvollziehbar: Die Möglichkeiten für das LSO im Barbican sind begrenzt, allein schon vom zur Verfügung stehenden Platz her, die Royal Festival Hall hat bereits vier Residenzorchester, die Albert Hall ist eh außen vor, nicht nur aus akustischen Gründen, und auch die Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie wird neue Begehrlichkeiten geweckt haben. Was immer daraus wird: Meine Faszination für die Royal Albert Hall wird davon unberührt bleiben.

Nach dem Konzert bin ich in nur wenigen Schritten bei meiner Unterkunft, was mir ein geradezu unverschämtes Vergnügen bereitet. Es sind die kleinen Dinge!

London (Part III): Tag 5

Der spontane Opernbesuch und die Frankfurter Buchmesse haben die London-Nachlese ein weiteres Mal unterbrochen. Ich nehme den Faden wieder auf mit der Rückschau auf Tag 5! Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Es ist Montagmorgen und das Wetter ist unentschlossen. Ich bin früh wach und rechne mir aus, dass ich ungefähr zu Öffnungsbeginn um 10 Uhr an der National Portrait Gallery sein kann. In der Hoffnung, dass es zu dieser Uhrzeit dort noch nicht ganz so voll ist, mache ich mich auf den Weg.

Die Station Leicester Square wird von schwerbewaffneten Sicherheitskräften bewacht, ein für Londoner Verhältnisse bislang ungewohnter Anblick. Ich schlucke mein Unbehagen hinunter und trete auf die Charing Cross Road. Ein paar Schritte weiter fällt mir linker Hand eine Gasse auf, die irgendwie interessant aussieht. Nach ein paar Metern und einer 90°-Kurve stelle ich fest, dass sie zwischen zwei Theaterhäusern hindurchführt: Das Wyndham’s und das Nöel Coward Theatre stehen hier Rücken an Rücken. Mehrere Türen des Nöel Coward sind geöffnet, durch eine kann ich einen Blick auf den unmittelbaren Backstagebereich erhaschen. Ich will nicht allzu neugierig wirken und wende mich wieder der Gasse zu. Ein Mann hastet auf das Theater zu, nicht besonders groß, Brille, Kopfhörer, Mütze, Kaffeebecher in der Hand. Er eilt wenige Meter an mir vorbei, offensichtlich auf der Suche nach dem richtigen Eingang. Ich denke: „Wenn man dem die Brille abnimmt, sieht er aus wie Martin Freeman“, und gehe weiter. Dann stutze ich. Moment mal, ich bin in London, das ist vielleicht Martin Freeman! Ich drehe mich um – zu spät.

Die Plakate am Haupteingang beenden alle Spekulationen. Das Stück heißt „Labour of Love“, in den Hauptrollen: Tamsin Greig und, Volltreffer, Martin Freeman. Bis zur Premiere am 27. 9. sind es nur noch wenige Tage.

Doppelte Vicky
Doppelte Vicky

In der National Portrait Gallery sind gleich massenweise berühmte Menschen zu sehen – zumindest deren Abbilder, die in vielen Fällen bereits einen eigenen Celebrity-Status erreicht haben. Dabei wird keineswegs nur die Historie berücksichtigt. Im großen Treppenhaus leuchtet mir aus Raum 32 ein Portrait von Ed Sheeran entgegen. Später sehe ich unter anderem Judi Dench, Maggie Smith, die Herzogin von Kent, Julia Donaldson und, umgeben von kichernden Schulkindern, ein Video des schlafenden David Beckham.

Ich mache mich zunächst auf die Suche nach Richard III. Das Bild ist nicht leicht zu finden, denn laut Museumsplan beginnt die Chronologie der ausgestellten Porträts mit den Tudors ab 1485. Richard III. ist aber ein Lancaster, der letzte seiner Dynastie, er regierte von 1483 bis 1485. Obwohl ich zuvor schon mittels der Suchfunktion auf der NPG-Webseite ermittelt hatte, dass Richard „on display“ ist und sogar, in welchem Raum er hängt, muss ich schließlich doch noch nachfragen.

Richard III. hat einen sehr schlechten Ruf, nicht zuletzt durch die Charakterisierung William Shakespeares. Nicht wenige Historiker zweifeln jedoch an der Version der Prinzenmorde, die in Geschichtsbüchern vermittelt wird. Der perfekte Stoff für einen Krimi, von Elizabeth MacKintosh alias Josephine Tey 1951 in dem Roman „The Daughter of Time“ („Alibi für einen König“) als ebensolcher verwendet.

Richard III.
Richard III.

Ich betrachte das Porträt lange, schieße ein Foto und grüße Richard von einer alten Freundin, bevor ich mich dem Rest der Sammlung widme.

Mit bildender Kunst kenne ich mich weniger aus als mit darstellender und oft habe ich Schwierigkeiten, einen Zugang zu den Werken zu finden. Porträts, egal welcher Art, Epoche und Stilrichtung, bilden die Ausnahme. Dass die Briten ihre in einem Haus versammelt haben, passt mir daher ganz hervorragend und ich tauche erst nach knapp drei Stunden wieder aus dem Gesichtermeer auf.

Pikachu on Trafalgar Square
Pikachu on Trafalgar Square

Draußen scheint mittlerweile die Sonne und ich setze mich mit einem Sandwich zu Füßen der National Gallery an den Trafalgar Square.

Mein nächstes Ziel ist das British Museum. Ich nehme ein weiteres Mal die London Walks-Führung in Anspruch in der Befürchtung, mich sonst in dem riesigen Komplex zu verlieren. Eine weise Entscheidung – das British Museum ist wirklich unfassbar weitläufig. Allein mit der Geschichte des Hauses könnte man sich stundenlang aufhalten.

Der Guide bugsiert uns gekonnt durch die Besuchermassen und garniert seine Beschreibung der Museums-Highlights mit effektvollen Cliffhangern. Dabei faszinieren mich neben dem Rosetta Stone in den ehemaligen Räumen der British Library insbesondere die Artefakte aus dem angelsächsischen Schiffsgrab von Sutton Hoo.

Bevor ich bis zum Rand voll mit Eindrücken ermattet ins Bett falle, mache ich noch einen Abstecher nach Marylebone, esse eine Kleinigkeit bei Natural Kitchen, stöbere ein Dreiviertelstündchen bei Daunt Books und werfe einen kurzen Blick ins Kaufhaus Selfridges an der Oxford Street.

„La Traviata“ in der Staatsoper Hamburg

Vor einigen Tagen wurde ich auf die Blogparade des Archäologischen Museums Hamburg in Zusammenarbeit mit Tanja Praske aufmerksam, die Überschrift lautet: „Verloren und wiedergefunden? Mein Kulturblick | #Kultblick“. Nun ist das Susammelsurium in seiner Gesamtheit ein Erfahrungsbericht der Wieder- und Neuentdeckung von allerlei Kulturellem mit musikalischem Schwerpunkt. Darüber eigens einen zusammenfassenden Text zu schreiben, hieße, sich in nicht wenigen Punkten zu wiederholen – etwas, was ich zu vermeiden versuche. Während ich noch darüber grübelte, flatterte mir die Einladung der Staatsoper Hamburg zum InstaWalk mit anschließendem Opernbesuch in den Posteingang. Der daraus entstandene Beitrag beantwortet zwar keine der #KultBlick-Fragen, jedenfalls nicht explizit. Aber das Thema hat viele Facetten. Der (Unter-)Titel für diese lautet: „Mit anderen Augen“.

Dass ich gestern Abend in der Staatsoper Hamburg saß und der Aufführung von „La Traviata“ lauschte, hatte sich kurzfristig ergeben. Es blieb keine Zeit, sich auf Oper und Inszenierung gebührend vorzubereiten. Wobei das im Prinzip nur für letzteres nötig gewesen wäre, denn Alexandre Dumas‘ Geschichte von der Kameliendame und mindestens die Arienhits der Umsetzung von Giuseppe Verdi und Francesco Maria Piave (Libretto) sind mir quasi von Kindesbeinen an bekannt.

Zwei Umstände führten dennoch dazu, dass ich das Gesamtgebilde Oper mit neuen Augen betrachtete.

Zum einen war es die vom Team der Staatsoper angebotene Führung am Nachmittag, die einer kleinen Gruppe Instagrammern, Twitterern und Bloggern Einblicke in Requisitenlager, Maske sowie auf und unter die Bühne gewährte.

Im Requisitenlager
Im Requisitenlager
Aufgetischt
Aufgetischt
Voller Einsatz
Voller Einsatz

Dabei lernten wir unter anderem, dass in den unterschiedlichen Gebäudeteilen nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen der (historischen) Land- und der Stadtseite unterschieden wird, der Bühnenraum 28m hoch ist, der Boden sich 10m absenken lässt und in ihm somit die „Rickmer Rickmers“ Platz hätte, warum es im Altbau, in dem sich Bühne und Künstlergarderoben befinden, keine Aufzüge gibt und dass sich für jede Sängerin und jeden Sänger – Solist oder Chor – ein eigenes Kopfmodell in der Werkstatt befindet, um Perücken nach Maß fertigen zu können.

Große Auswahl
Große Auswahl
Von Haupt- und anderen Haaren
Von Haupt- und anderen Haaren
Parsifal
Parsifal

Bevor man sich als Teil des Publikums lässig in seinen Sitz fallen lässt, um sich wahlweise berieseln, verzücken, verstören oder auch verärgern zu lassen, sollte man sich kurz vergegenwärtigen, wie viele Arbeitsschritte und helfende Hände, wie viel Handwerkskunst, Kommunikation, Koordination und Konzentration in jeder einzelnen Aufführung stecken. Die Ticketpreise relativieren sich damit sehr schnell und der Respekt vor der Leistung aller Beteiligter bleibt auch dann noch erhalten, wenn einem die Inszenierung nicht zusagt oder einer der Sänger einen schlechten Tag erwischt hat.

Soufflierplatz
Soufflierplatz
Auf der anderen Seite
Auf der anderen Seite

Zum anderen befand sich in der geführten Gruppe jemand, der noch nie im Theater war, bisher kein einziges klassisches Konzert besucht hat, am gestrigen Abend zum allerersten Mal eine Oper sah und daher mit einigen Fragezeichen in die Pause ging.

Ist das echter Text, singen die da wirklich Italienisch? Die Frage mag den Opernkenner bass erstaunen, aber wer neu in der Materie ist, die Story nicht kennt und versucht hat, aus den deutschen Übertiteln auf die jeweils gesungene italienische Textzeile zu schließen, stand streckenweise auf verlorenem Posten. Zumal die Bühnenhandlung inszenierungsbedingt nicht immer zu einhundert Prozent dem Libretto entsprach.

Ob das normal sei, diese ständigen Wiederholungen? Ganz schön anstrengend, der Gesang, insbesondere der hochfrequente Sopran. Meine Schwestern und ich, das fiel mir dabei ein, haben Koloraturen früher gerne als „Gejoller“ bezeichnet und zugegeben, ganz meine Stimme war das auch nicht. Rätselhaft waren dem Neuling zudem die auf geisterhaft getrimmten Gauklerfiguren, von Regisseur Johannes Erath mutmaßlich eingesetzt, den Andersweltcharakter des gewählten Schauplatzes zu betonen. Und dann war da noch das Violetta-Double, Teil des (übrigens ausnehmend schönen) Rahmenbildes zu Anfang und Ende der Inszenierung. Den Verlauf des 4. Bildes versteht nur, wer die Unterschiede zwischen literarischer Vorlage und Libretto kennt (bzw. wenigstens das Programmheft gelesen hat) oder entsprechend phantasiebegabt ist. Wobei: „Doch, doch das hab ich kapiert: eine zum Sterben und eine zum Singen!“ Genau.

Sterben dauert in der Oper ja prinzipiell ewig. Besonders anschaulich brachte das einst Herman van Veen mit dem Stück „Erstochen“ auf den Punkt. Die Augen des Opernnovizen schielten mehrfach auf die Uhr. Kaum verwunderlich, denn „La Traviata“ ist auch in dieser Hinsicht ein Extrembeispiel: Violetta benötigt zum Ableben gleich einen ganzen Akt. Die „wenigen Stunden“, von denen Dottore Grenvil am Anfang des Bildes spricht, werden gefühlt in Echtzeit ausgewalzt. Keine ganz leichte Einstiegskost also für jemanden, der ansonsten vorzugsweise elektronische Musik hört. Da hatte es Julia Roberts als Vivian Ward etwas leichter, damals in „Pretty Woman“. Gerade auch thematisch. Bravo fürs Durchhalten!

Ja, doch, so lautete das Fazit, ziemlich herausfordernd, aber interessant. Bestimmt nochmal Oper, wohl nicht sehr bald, aber irgendwann. Zu denken gab mir der Satz „Das ist doch eher etwas für ältere Leute, wenn ich mir das Publikum so ansehe.“ Dass wir den Schnitt gestern Abend gesenkt haben, war leider nicht zu leugnen. Ebenso wenig, dass es unter anderem dieser Umstand war, der mich selbst so lange mit der Staatsoper und symphonischen Konzerten hat hadern lassen. Was man dagegen tun kann? Sich öffnen, zum Beispiel mit Instagram & Co., und damit – wie geschehen! – neue Augen ins Haus locken.

Abgesehen von diesen Beobachtungen und Einsichten: Ich mochte die Kostüme, ebenso das Bühnenbild – nicht trotz, sondern wegen seiner Schlichtheit -, mir gefiel die Inszenierung und was die Gesangsparts angeht, fielen meine Eindrücke in etwa mit dem des Applausometers zusammen. Besonders viel Zuspruch ernteten Dinara Alieva als Violetta Valery (das war schon gut, nur halt knapp nicht meine Frequenz), Liparit Avetisyan als Alfredo Germont (ein Hauch zu viel Geschluchze für meinen Geschmack, aber andererseits: wo, wenn nicht bei „La Traviata“ und in dieser Rolle!) und vor allem Juan Jesús Rodríguez als Giorgio Germont (ich bin ja doch irgendwie ein Bariton-Mensch).

Übrigens, wer selbst einmal hinter die Kulissen der Staatsoper schauen möchte, kann sich einer öffentlichen Führung anschließen, eine private buchen oder aber das hauseigene Blog durchstöbern. Lieblingsbeispiele: im Schnelldurchlauf zur Parsifal-Hauptprobe und der #KopfdesFigaro.

Der #KopfdesFigaro
Der #KopfdesFigaro

London (Part III): Tag 4

Eigentlich wollte ich heute meinen Balkongarten winterfest machen, aber draußen tobt Sturm Xavier, es überschlagen sich die Martinshörner, Hoch- und S-Bahn verzeichnen erste Ausfälle und die Feuerwehr Hamburg twittert, man möge sich doch bitte lieber nicht draußen aufhalten. Außerdem, wenn ich mit der London-Nachlese im bisherigen Tempo fortfahre, bin ich noch bis Weihnachten dabei. Es folgt also die Rückschau auf Tag 4! Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Tatsächlich schaffe ich am vierten Tag, was ich mir vorgenommen habe: Ich stehe später auf, nehme mir gebührend Zeit für das im Übernachtungspreis enthaltene „Full English Breakfast“ im Senior Common Room des Imperial College und breche erst gegen Mittag gen Osten auf. Eine weitere Booking.com-Freifahrt nutzend, fahre ich ab Westminster Pier mit einem Schiff der Circular Cruise Richtung Tower. Die Tour an sich ist unspektakulär, wird aber kurzweilig durch die launigen Kommentare des Bootsmanns, der am Ende statt Hut einen Sektkübel (!) herumgehen lässt.

Am Tower wuseln wie meistens Touristen aus aller Herren Länder bunt durcheinander. Ich bedauere kurz, dass der Eintritt so teuer ist. Gerne hätte ich den Raben einen schnellen Besuch abgestattet. Sie sind mir, seit ich Ravenmaster Chris Skaife auf Twitter und Instagram folge, sehr ans Herz gewachsen. Vielleicht beim nächsten Mal wieder.

Heute habe ich ein anderes Ziel: die Erased Tapes Sound Gallery am Victoria Park.

Sound Gallery
Sound Gallery
Now playing: Ben Lukas Boysen
Now playing: Ben Lukas Boysen

Einmal, weil ich Fan bin und zum Zweiten, weil dort ein ganz besonderes Instrument quasi frei zugänglich ist: das Klavins Una Corda.

Please ask to play our piano
Please ask to play our piano
Una Corda
Una Corda

Seit ich das Teil im Mai 2015 auf der Kampnagel-Bühne zum ersten Mal gesehen und gehört habe, will ich darauf spielen. Damals war es Nils Frahm mit der No. 001, in London hingegen steht die No. 007. Wie es sich gehört.

No. 007
No. 007

Die Gallery ist zunächst leer bis auf die freundliche Dame, die sie bewacht und ich traue mich an die Tasten. Ich spiele drei Stücke, klimpere noch ein bisschen, entferne schließlich die Dämpferschiene und spiele weiter. Es klingt ein klein wenig verstimmt. Vermutlich passiert das bei dieser Bauweise schon, sobald sich der Klavierstimmer auch nur zur Tür dreht. Es erinnert mich – nicht vom Klang, nur vom Prinzip her! – an mein altes Stage Piano von Kawai, das ebenfalls nur eine Saite pro Ton besitzt. Seit ich das „richtige“ Klavier habe, treibt sich das EP608 irgendwo in der weitläufigen Verwandtschaft herum. Vielleicht sollte ich das gute Stück bei Gelegenheit zu mir nach Hamburg holen.

Zurück zum Victoria Park. Eine ausnehmend hübsche Gegend ist das! Und ohne das Una Corda wäre ich da wohl nie hingekommen. Ich schwatze und stöbere noch ein bisschen, kaufe zwei CDs und reiße mich schließlich los.

Abends begebe ich mich erneut ins West End. Im Duchess Theatre wird „The Play That Goes Wrong“ gegeben, und das bereits im dritten Jahr. Erst ein paar Wochen zuvor hatte das Stück auf dem Spielplan des St. Pauli Theaters gestanden. Die Plakatankündigungen dazu hatten mich seinerzeit auf die Idee gebracht, mir das Original anzuschauen. „The Play That Goes Wrong“ besteht im Wesentlichen aus Slapstick pur gepaart mit waschechtem britischen Humor. Was die Londoner Aufführung zum Glanzstück macht: die großartige Besetzung und ihr grandioses Timing. Das Publikum dankt es mit nahezu durchgängigem Gelächter.

Auch bei meinem zweiten Theaterbesuch fällt mir auf, dass dieser einem klassischen (Plüsch-)Kinoabend sehr viel ähnlicher ist, als ich es von Deutschland und Hamburg her gewohnt bin. Man kleidet sich leger, kaum jemand gibt Jacken oder Taschen an der Garderobe ab, Snacks und Getränke (sogar Mitgebrachtes!) sind im Zuschauerraum erlaubt und in der Pause wird dort Eis zum Verkauf angeboten. Auffällig ist außerdem der „Safety Curtain“, der zur Pause die Bühne vom Zuschauerraum trennt. Ich erfahre später, dass es sich um eine Feuerschutzmaßnahme handelt, stammen doch die meisten Theatergebäude im West End aus viktorianischer Zeit und entsprechen daher wohl nur unzureichend den modernen Brandschutzbestimmungen.

Nach dem tosenden Schlussapplaus mache ich mich mit reichlich strapazierten Lachmuskeln auf den Weg zurück nach Kensington.

London (Part III): Tag 3

Zeit für „London (Part III) – die Nachlese“! Es folgt die Rückschau auf Tag 3. Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Auch dieses Mal mache ich wieder den Fehler, ein Programm für zwei Wochen in sieben Tage pressen zu wollen. Die Stadt ist einfach zu groß dafür; selbst wenn man die Transfers geschickt vorplant, erfordern alle Wege von A über B nach C grundsätzlich mehr Zeit, als zuvor am Reißbrett ausbaldowert. Das merke ich am dritten Tag, als ich „nur mal eben“ durch den Hyde und Green Park laufen, bei Fortnum & Mason etwas besorgen und einen kurzen Blick in Burlington Arcade und Savile Row werfen will. Bis ich damit durch bin, wird es für mein Vorhaben, zwei bestimmte Orte in der Nähe von Euston Station und St. Pancras/King’s Cross zu besuchen, schon ziemlich knapp. Ab 14 Uhr möchte ich nämlich an der London Walks-Führung durch Kensington teilnehmen, um näheres über den Stadtteil zu erfahren, in dem meine Unterkunft liegt.

Aber zunächst zurück nach Mayfair. Um in der Burlington Arcade shoppen gehen zu können, müsste ich in eine ganz andere Gehaltsklasse springen. Aber schön anzusehen ist sie, keine Frage, und dann hängt da auch noch ausgesprochen hübsche Kunst!

Burlington Arcade
Burlington Arcade
"Birds" von Mathilde Nivet
„Birds“ von Mathilde Nivet

Als weniger hübsch erweist sich die Savile Row, bekannt als erste Adresse für maßgeschneiderte Herrenbekleidung. Zwar sind einige ansprechende Schaufenster zu bewundern, aber der einst wohl erheblich noblere Gesamteindruck wird unter anderem dadurch geschmälert, dass sich an der Ecke Burlington Gardens/Savile Row eine Abercrombie & Fitch-Filiale befindet. Was man riecht, bevor man es optisch wahrnimmt. Örks.

"Is it overcoat weather?"
„Is it overcoat weather?“

Schon etwas abgehetzt mache ich mich dann auf den Weg zur Euston Station. Dass ich in Speedy’s Café nichts essen oder trinken, sondern in meiner Eigenschaft als Sherlock-Aficionado nur schnell ein Foto von dem Gebäude schießen will, verschafft mir für die Platform 9 3/4 in King’s Cross ein wenig Muße.

Rather a tourist trap nowadays
Rather a tourist trap nowadays

Die braucht man auch, denn sowohl am Trolley als auch im Shop direkt daneben drängen sich die Menschen. Ein ausgesprochen fröhliches Treiben, ich kann mich nicht erinnern, je eine so gut gelaunte Warteschlange gesehen zu haben.

Mit dem Trolley zum Gleis 9 3/4
Mit dem Trolley zum Gleis 9 3/4

Am Trolley kann man sich, mit Zauberstäben und Schals in den gewünschten Häuserfarben ausgestattet, professionell ablichten lassen. Ein freundliches Helferlein sorgt dafür, dass die Schals im richtigen Moment wehen, um den Bildern Dynamik zu verleihen. Das entsprechende Kommando des Fotografen lautet „… and: scarf!“ und sowohl die jeweiligen Protagonisten als auch ausnahmslos alle Umstehenden haben großen Spaß dabei.

Platform 9 3/4
Platform 9 3/4

Der Shop ist in etwa so eingerichtet, wie man sich einen echten Zauberladen in der Winkelgasse vorstellt. Es werden dort neben allerhand lizenziertem Ramsch auch die hochwertigen Strickwaren des schottischen Betriebs angeboten, der die Verfilmungen ausgestattet hat. Mein Widerstand ist schnell dahin und ich erstehe einen original Ravenclaw-Schal – Gryffindor kann schließlich jeder.

Nach einer knappen Stunde sprinte ich zurück in die Tube und erreiche so noch rechtzeitig den Beginn der Führung am Bahnhof High Street Kensington. Da The Roof Gardens, normalerweise die erste Station und eines der Highlights des Walks, leider wegen einer Veranstaltung nicht öffentlich zugänglich sind, halten wir uns recht lange am Kensington Square und bei den Berühmtheiten auf, die die Gegend einst bewohnt haben. Besonders viel Strecke machen wir dadurch nicht, aber auch bei diesem Ausflug mit London Walks bekomme ich wieder Ecken zu sehen, in die ich so sonst nicht gekommen wäre und Geschichten erzählt, die in keinem der handelsüblichen Reiseführer stehen. Das lohnt sich einfach immer.

Kensington Square
Kensington Square

Nach einem kleinen Zwischenstopp im Quartier geht es am Abend ins Theatre Royal Haymarket und zur Royal Shakespeare Company. Das Theater existiert seit 1720 und zählt somit zu den ältesten noch im Betrieb befindlichen Spielstätten Londons. Die Innenausstattung ist dementsprechend grandios. Das Stück heißt „Queen Anne“ und ist, anders als Titel, Bühnenbild und Kostüme vermuten lassen, ein zeitgenössisches Werk. Zu meiner Freude habe ich keinerlei Verständnisprobleme und kann mir so von dem großartigen Ensemble die mir zuvor unbekannte Geschichte der Königin erzählen lassen, die England von 1702 bis zu ihrem Tod im Jahr 1714 regierte und auf deren Betreiben unter anderem die politische Vereinigung von England und Schottland zu Großbritannien („Act of Union“) zustande kam.

Das Stück dauert inklusive der Pause fast drei Stunden. Gegen Ende beschleichen mich leichte Konzentrationsprobleme. Das stramme Tagesprogramm fordert seinen Tribut und ich nehme mir fest vor, es von jetzt an langsamer angehen zu lassen.

In Concert: Evgeny Kissin, Thomas Hengelbrock und das NDR Elbphilharmonie Orchester in der Elbphilharmonie

Da saß ich also mal wieder in der Elbphilharmonie und wollte mich eigentlich den musikalischen Darbietungen von Evgeny Kissin und dem NDR Elbphilharmonie Orchester unter der Leitung von Thomas Hengelbrock widmen.

Das Konzert begann pünktlich um 18 Uhr mit dem 2. Klavierkonzert von Béla Bartók und obwohl ich das Stück bisher nicht kannte und kein besonderer Bartók-Fan bin, bekam ich recht schnell eine Ahnung, warum Evgeny Kissin schon im zarten Alter von Mitte 40 als lebende Legende bezeichnet wird. Diese verfestigte sich durch die Zugabe, der Prélude cis-moll op. 3 Nr. 2 von Sergei Rachmaninoff. Einem Stück, mit dem mich einst auch mein Klavierlehrer zu quälen versuchte. Was mir damals sehr geholfen hätte: eine Aufnahme von jemandem zu hören, der das wirklich gut kann. Live ist natürlich noch besser. Nicht obwohl, sondern gerade weil mir Kissins Vortrag an der ein oder anderen Stelle ein wenig zu geziert erschien – kann man machen, hätte ich aber so nicht.

In der Pause leuchteten im Großen Saal die Smartphone-Bildschirme auf. Überall wurden die ersten Prognosen zum Ergebnis der Bundestagswahl 2017 abgerufen und diskutiert. Es passierte das Unvermeidliche: „13%! Das ist doch schon mal gut“, kommentierte eine Dame in der Reihe direkt vor mir, bevor sie ihren Sitz verließ.

Was macht man da? Ihr übers Kleid kotzen, wie ich spontan auf Twitter vorschlug? Was mir zwar einigen Beifall einbrachte, aber letztlich reichlich albern ist. Das ist, was man an Hilflosigkeiten von sich gibt, wenn man zwar mit dem Einzug einer Nazifraktion ins Bundesparlament gerechnet hat, aber wahrlich nicht in dieser Stärke.

Vor einigen Monaten hatte ich noch laut darüber nachgedacht, Angela Merkel bzw. der CDU meine Stimme zu geben und meine Skepsis gegenüber der SPD-Spitzenkandidatur von Martin Schulz geäußert. Ich habe ersteres dann doch nicht getan und mit letzterem (leider) recht behalten. Aber stärker als noch beim Amtsantritt des 45. Präsidenten der USA beschleicht mich jetzt das Gefühl, dass alle paar Jahre meine Kreuzchen zu machen allein nicht mehr ausreicht. Dass ich tun sollte, was ich bisher kategorisch ausgeschlossen habe: nicht mehr bloß passiver Anhänger der Demokratie zu sein, sondern Mitglied einer ausgewiesen demokratischen Partei zu werden. Mit diesem Gedanken, so stellte ich schnell fest, befinde ich mich in guter Gesellschaft, zumindest innerhalb meiner Filterblase.

Zurück zum Konzertabend. Es folgte Gustav Mahlers 1. Sinfonie in D-Dur (in der Hamburger Fassung, aber ohne den 2. Satz „Blumine“). Mir war durch die aktuellen Ereignisse und eine leichte Ermattung als Nachwirkung der Londonwoche leider ein wenig die Konzentration abhandengekommen, aber eines kann ich erneut durch Erfahrung bestätigen: Ganz oben, auf den billigen Plätzen, ist der Elphi-Sound grandios. Und das NDR Elbphilharmonie Orchester kennt sich mittlerweile sehr gut aus in seinem neuen Zuhause.

London (Part III): Tag 2

Zeit für „London (Part III) – die Nachlese“! Es folgt die Rückschau auf Tag 2. Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Ich beginne den Freitagmorgen mit einer sonnigen Laufrunde durch Hyde Park und Kensington Gardens. Wenn man schon einmal fußläufig wohnt! Beim Frühstück erreichen mich erste besorgte Nachfragen: „Alles OK bei Dir?“ Kurz darauf tickert die Eilmeldung über den Anschlagsversuch in der U-Bahn-Station Parsons Green auf meinem Handy ein. „Keep calm & carry on“, denke ich, „machst Du Deine Wege halt heute zu Fuß.“ Mit Blick auf die Vorhersage der Metoffice-Wetterapp beschließe ich dann aber, als allererstes meine Booking.com-Freifahrt fürs London Eye einzulösen. Bis zur Waterloo Station laufen? Auch irgendwie doof. Bus raussuchen? Taxi? Uber? Ein Rad leihen? Alles nicht so meins. Ich begebe mich daher doch zur Tube und stelle mit Erstaunen fest: Bis auf den direkt betroffenen Streckenabschnitt wird „There is a good service on all other London underground lines“ gemeldet. Business as usual, nur wenige Stunden nach dem Anschlag. Es mag keine Neuigkeit sein, aber von den Briten im allgemeinen und den Londonern im Besonderen kann man sich, was den Umgang mit Terrorgefahr angeht, eine sehr dicke Scheibe abschneiden. Respekt.

Das London Eye hätte ich ohne die erwähnte Freifahrt – sogar für den extrem fixen „Fast track“! Das Ticket kostet regulär über £30! – bestimmt nicht in Erwägung gezogen. Allein schon der Preise wegen. Den Fehler sollte man nicht machen: Die Aussicht ist nicht weniger als spektakulär.

Im Anschluss spaziere ich an der South Bank entlang bis zum Borough Market und finde dort zwar erfreulicherweise ein reges Treiben, aber leider nicht mehr die Dame vor, die dort im letzten Jahr noch Cornish Pasties verkaufte. Ich begnüge mich ersatzweise mit einer Focaccia und einem Brownie von Olivier’s Bakery. Außerdem kann ich leider nicht am Stand von Whirld vorbeilaufen, ohne frischen Fudge zu kaufen. Hilft ja nichts.

Nach kurzem Boxenstop mache ich mich auf ins Victoria and Albert Museum, kurz V&A. Das Museum hat an Freitagen nicht wie sonst bis 17:30 Uhr, sondern bis 22:00 Uhr (bzw. 21:45 Uhr) geöffnet. Allerdings sollte man das Kleingedruckte beachten: „Reduced gallery openings on Fridays after 17.30“. Leider ist auch vor Ort schwer herauszufinden, welche Sammlungen frühzeitig geschlossen werden. Als Faustregel kann man aber gelten lassen: Je tiefer das Stockwerk, desto länger geöffnet. Ich beginne meine Erkundung daher in Raum 118c des 4. Stocks („The Grand Tour“), um mich dann vom 18. Jahrhundert allmählich ins viktorianische Zeitalter und von da zum 20. Jahrhundert vorzuarbeiten. Das schaffe ich noch in aller Gründlichkeit. Dann wird es mit der Zeit schon etwas knapp, bei rapide absinkendem Aufnahmevermögen. Ich begnüge mich damit, durch die noch geöffneten Museumsteile zu stromern und das Auge schweifen zu lassen.

Breathless
Breathless
Ironwork
Ironwork
Cityscape and Villa (Paul and Jill Ruddock Gallery)
Cityscape and Villa (Paul and Jill Ruddock Gallery)

Wer wie ich ein bekennender Fan des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe (MKG) ist, muss das V&A einfach lieben – die Selbstbezeichnung „The world’s leading museum of art and design“ erscheint mir nicht untertrieben. Ich kann insbesondere die Bereiche „Ironwork“, „Jewellery“ (3. Stock) und „Fashion“ (1. Stock) empfehlen und das Essen im V&A Café, übrigens dem ältesten Museumsrestaurant überhaupt, ist zwar preislich kein Schnäppchen, aber sehr lecker. Ganz abgesehen davon, dass die Räumlichkeiten üppig dekoriert sind und dort gelegentlich sogar ein Pianist aufspielt.

Bevor ich gefragt werde: Die Pink Floyd-Ausstellung habe ich ausgelassen. Die zwanzig Pfund Eintritt und das Schlangestehen waren es mir nicht wert.

Müde (und kalt)

Nach fast fünf Stunden verlasse ich das V&A mit dem Gefühl, nicht einmal einen Bruchteil gesehen zu haben und begebe mich rechtschaffen müde in mein Quartier.