Da ist dieses eine Mitglied des Hamburger Mendelssohnchors, eine ehemalige Kollegin, die mir seit Jahren hartnäckig immer wieder per Postkarte Informationen zu dessen Konzertprogramm weiterleitet. Bis vor kurzem leider ohne Erfolg. Peinlich genug, sind mir doch insgesamt drei Chormitglieder – darunter ein weiterer ehemaliger Kollege – und die Chorleiterin persönlich bekannt. Aber in diesem Jahr passte es endlich einmal; von den drei zur Auswahl stehenden Terminen allerdings nur der in der Paul-Gerhardt-Kirche. Wesentlich näher wäre die Kreuzkirche Alt-Barmbek gewesen, und zwar nicht nur für mich, sondern auch für das Mitglied des Chors St. Johannis, welches mir vor Ort in Altona unverhofft über den Weg lief – wir wohnen nämlich beide in Barmbek Nord und kennen uns über einen Herrn, der beinahe mein Kollege geworden wäre.
Durch diese Begegnung kam ich in den Genuss eines weiteren Chorkonzerts, das gestern in St. Johannis-Harvestehude stattfand. Dort traf ich zufällig das eingangs erwähnte Mitglied des Mendelssohnchors, das spontan eine mir ebenfalls bekannte Freundin begleitete, die wiederum, man wird es mir kaum glauben, eine Karte für den Platz neben mir auf der Empore hatte.
Heute Morgen schließlich war das nämliche Mitglied des Mendelssohnchors meine Begleitung beim 1. Morgen Musik-Konzert „Fensterkreuz“ der Hamburger Symphoniker unter der Leitung von Sylvain Cambreling. Die Karten hatte ich ausnahmsweise nicht gekauft, sondern vor einigen Wochen über den Symphoniker-Newsletter gewonnen. Das Programm war außergewöhnlich – und außergewöhnlich chormusiklastig. Zu hören war die Europa Chor Akademie Görlitz, unter deren Gründer und Leiter Joshard Daus ich vor etlichen Jahren als kleinstes Licht im Chor des Lippstädter Musikvereins die „Schöpfung“ singen durfte.
Hattrick komplett, Kreis geschlossen. Fürs Erste zumindest.
Oh, und musikalisch? Die ganze Bandbreite. In Altona „Eine Winterreise zwischen Romantik und Pop“, in Harvestehude Duke Ellingtons „Sacred Concert“ (mit Big Band, einer sensationellen Steptanzeinlage und der noch sensationelleren Solistin Rita Maria) und zuletzt in der Laeiszhalle „Perlen der Chormusik“ von Mozart, Tschaikowsky, Szymanowski und Strawinsky, kontrastreich kombiniert mit Sufi-Gesang von Aïcha Redouane und dem Ensemble Al-Adwâr. Einige Konzertbesucher hatten hör- und sichtbar Schwierigkeiten mit den ungewohnteren Klängen des Programms, wobei die Grenze für manche offenbar gleich hinter den Mozartstücken lag. Innerlich seufzend erinnerte ich mich an ähnliche Reaktionen aus vergangenen Symphoniker-Konzerten. Da ist noch Luft nach oben – beim Publikum, wohlgemerkt, nicht etwa beim Orchester oder seinem Chefdirigenten. Das gilt, wie ich seit heute weiß, nicht nur für die von vorzugsweise durch Abonnenten belegten Plätze der Preisklassen 2 und 3 im 1. Rang, sondern auch für die Beletage im Parkett.
Wie dem auch sei, so viel Chormusik wie in den letzten Wochen habe ich seit Jahren nicht gehört. Und dabei gleich einiges gelernt, z. B. dass es von so unterschiedlichen Komponisten wie Duke Ellington und Peter I. Tschaikowsky Kirchenmusikwerke gibt. Schlagt mich, aber das war mir neu!
Das nächste Konzert ist wieder mit Klavier und Elektronik und ich weiß schon, welcher der üblichen Verdächtigen aus der örtlichen Neigungsgruppe neben mir sitzen wird. Langweilig wird es deshalb bestimmt nicht. Und wer weiß, vielleicht sitzt auf dem Platz auf der anderen Seite neben oder hinter mir der Beginn der nächsten Stafette durchs Hamburger Musikdorf.
Ich bin schon wieder zwei Konzerte im Rückstand – ehrlich gerechnet sind es sogar drei Konzerte, zwei Lesungen und eine le voyage abstrait. Nicht alles davon wird Eingang ins Susammelsurium finden, aber zum Lambert-Konzert der vergangenen Woche im kleinen Saal der Laeiszhalle möchte ich doch schnell noch ein paar Sätze verlieren.
Das neue Album „True“ wurde bei Erscheinen nicht nur von einer Mockumentary flankiert, sondern auch damit beworben, dass Lambert sich in diesem zurück zu seinen Wurzeln als Solopianist bewegt. Im kleinen Saal der Laeiszhalle traten nichtsdestotrotz drei Musiker auf; neben dem Flügel waren Schlagzeug-, Synthesizer- und Gitarrenklänge zu hören. Das hatte bisweilen eine Jazztrio-Attitude, die mir sehr, sehr gut gefallen hat. Insbesondere bei „Vienna“.
Dabei klingt das auf „True“ konservierte „Vienna“ eher noch wie die Basis der Liveversion und genau so habe ich es ja eigentlich auch am liebsten. Uneigentlich wünsche ich mir bei Gelegenheit ein Livealbum. Geht da was, Lambert?
Es folgt der letzte Teil meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.
Am Vormittag des vorletzten Tags steht zunächst eine Backstage-Führung im Barbican Centre auf dem Programm. Bisher kenne ich von diesem nur die Hall, das Foyer und die Barbican Kitchen, aber das Centre beherbergt neben einem Kino, einem Ausstellungsbereich, einer Bibliothek und zahlreichen weiteren Räumlichkeiten auch noch das ursprünglich eigens für die Royal Shakespeare Company erbaute Barbican Theatre, wo am Abend die letzte Vorstellung des laufenden Gastspiels gegeben wird. Auf dem Programm steht „Jesus Christ Superstar“ und ich bin zwar alles andere als ein Musical-Fan, aber ein Besuch des Barbican gehört für mich zu jedem Londonaufenthalt dazu, seit ich dort im Juli 2016 zum ersten Mal ein Konzert erleben durfte. So lerne ich nun das Barbican Theatre zumindest aus der rückwärtigen Perspektive kennen, und auch wenn ich mich über ein mangelndes Angebot in Hamburg wirklich nicht beklagen kann, so beneide ich die Londoner dennoch um diesen ganz besonderen Kulturhotspot.
Gleich zu Anfang der Führung werden wir in eine bauliche Kuriosität eingeweiht: Um vom Künstlereingang direkt zum Schnürboden („Fly Tower“) zu gelangen, kann man durch einen Vorraum des Männerklos abkürzen. Die Dame, die uns herumführt, nennt das eine „Narnia Experience“ und ich fühle mich an die Tür 7 3/4 der Royal Albert Hall erinnert. Während der gut einstündigen Runde mit den weiteren Stationen Green Room, Prompter, Bühnenbereich und Zuschauerraum dürfen leider keine Fotos gemacht werden, der copyrightgeschützten Kulissen und der Mitarbeiter wegen, die um uns herum die abendliche Aufführung vorbereiten. Unsere Führerin erzählt uns einiges über die Geschichte des Centre im allgemeinen und des Theatre im Besonderen, wir lernen, warum es – ähnlich wie auf einem Schiff – verpönt ist, im Backstagebereich zu pfeifen und dass die namentliche Erwähnung eines gewissen schottischen Stücks hinter der Bühne ebenso Unglück verheißt wie ein Green Room, der tatsächlich grün gestrichene Wände hat.
Der hoch aufragende „Fly Tower“, so erfahren wir noch nebenbei, passte seinerzeit nicht ins architektonische Konzept, weswegen er durch einen Aufsatz kaschiert wurde. Dieser Aufsatz beherbergt das Conservatory, welches normalerweise nur an wenigen (Sonn-)Tagen im Jahr öffentlich zugänglich ist, heute aber ausnahmsweise geöffnet hat.
An geräumigen Dachgärten ist in London zwar wahrlich kein Mangel, aber das Barbican Conservatory sticht unter diesen zum einen durch seine schiere Größe und zum anderen dadurch hervor, dass die dschungelartige Landschaft mit dem brutalistischen Beton des Gesamtensembles eine überraschend schlüssige Allianz eingeht.
Den Nachmittag verbringe ich mit einem Ausflug zum tief im Osten der Stadt beheimateten The Who Shop, dem unvermeidlichen Besuch des Borough Market – neue Lieblingssorte von Whirld: Maple Fudge! – und einem Spaziergang entlang des Themseufers auf der Bankside bis hinunter zum Southbank Centre, vor dessen Toren praktischerweise gerade ein großer Bücherflohmarkt stattfindet.
Abends kann ich bei der Prom 48 zwei mir bislang nicht bekannte Rituale beobachten: Nach den „Three Pieces For Strings“ von Constantin Silvestri wird ein Flügel auf die Bühne gerollt und als die Bühnenarbeiter den Deckel öffnen, schallt es aus der Arena „Heave!“, was in der Gallery mit „Ho!“ beantwortet wird. Wenig später belohnen beide Fraktionen das Anschlagen des Kammertons a durch den ersten Geiger des BBCSO mit frenetischem Jubel. Beim anschließenden Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 16 von Sergei Prokofjew und der Zugabe, dem „Adagio“ aus Mozarts Klaviersonate Nr. 12, lerne ich den Pianisten Seong-Jin Cho kennen und schätzen. Das Publikum scheint ebenso angetan und auch die Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27 von Sergei Rachmaninow nach der Pause findet großen Anklang. Cristian Măcelaru, der Dirigient des Abends, ist Proms-Debütant und hat mit Sicherheit nicht zum letzten Mal auf dieser Bühne gestanden.
Den Vormittag des letzten Tages nutze ich zu einem Kurzbesuch des Victoria and Albert Museums. Es reicht gerade noch zur „Designing the V&A“-Tour, die mir einige neue Einblicke in Geschichte und Architektur des Hauses verschafft, da ist es auch schon wieder Zeit zum Aufbruch. Wie immer verlasse ich die Stadt mit dem Gefühl, eben erst richtig angekommen zu sein.
Es folgt Teil vier meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.
Ich beginne mein Tagesprogramm mit einem Besuch bei Stanfords. Auf meiner To Do-Liste landete dieses Vorhaben aufgrund eines Guardian-Artikels aus dem Januar 2019, der anlässlich des Umzugs der Londoner Niederlassung nach 118 Jahren am gleichen Standort erschien. Im Mercer Walk scheint man indes noch nicht so recht heimisch geworden zu sein: Das Kellergeschoss wirkt allzu sehr wie ein zur Ladenfläche ausgebautes Lager. „Neuen Fußboden verlegen, Beleuchtungskonzept überdenken“, schießt mir spontan durch den Kopf. Aber dann konzentriere ich mich auf das Sortiment und bin schwer beeindruckt. Ich blättere lange in den Mappen mit den Nachdrucken historischer Karten, kann mich aber schlicht nicht entscheiden und verlasse den Laden, ohne etwas zu kaufen.
Vom Mercer Walk sind es nur ein paar Schritte bis zum Covent Garden Market. Dort halte ich mich nicht lange auf; es scheint sich nicht viel verändert zu haben seit meinem letzten Besuch und die bereits um diese Tageszeit einströmenden Menschenmassen nerven mich. Dennoch bleibe ich am Stand von Stu MacKay Fine Art hängen und bin kurzzeitig versucht, eine Illustration aus seiner „UK Invasion Series“ zu erwerben. Besonders gut gefallen mir „Phone Hacked“, „Time Machine“ und „The Invisible Man“. Ich beherrsche mich, laufe um den Platz und betrete den Eingangsbereich des London Transport Museum.
Irgendwann gehe ich bestimmt auch mal in die Ausstellung, aber heute halten mich das schöne Wetter und der Andrang am Ticketschalter ab. Ich belasse es beim Stöbern im angeschlossenen Shop und werde dort schließlich schwach. Das Moquettekissen mit dem „Barman“-Motiv ist ein eher ungewöhnliches Souvenir, zugegeben, aber gerade das macht es für mich unwiderstehlich. Abgesehen davon, dass ich als passionierte ÖPNV-Nutzerin nahezu alle Wege innerhalb der Stadt per Tube zurücklege.
Anschließend schlendere ich über Trafalgar und Leiceister Square bis zum Piccadilly Circus. Bei Waterstones Piccadilly verbringe ich eine geschlagene Stunde, dann bin ich bei Fortnum & Mason zum Lunch verabredet. Danach muss ich wenigstens noch auf einen Blick rüber zu Hatchards. Aus einer Laune heraus beschließe ich, von hier aus zum Themseufer zu laufen. Ich nehme den Weg über Whitehall und an 10 Downing Street vorbei. Der Prime Minister weilt in Frankreich, und so gibt es außer einer Handvoll Dauerdemonstranten und einem Pulk Touristen nicht viel zu sehen. Die Gegend um den Palace of Westminister gleicht einer gigantischen Baustelle, es ist laut, heiß und ungemütlich. Ich lege eine Pause in den Whitehall Gardens ein, bevor ich zu meiner Unterkunft zurückkehre.
Schon im Vorfeld des Nils Frahm-Konzerts am Abend im Printworks hatte ich umfangreiche Hinweise und Verhaltensregeln per E-Mail erhalten. Besonders eindrücklich wurde vor Taschendieben gewarnt, weswegen ich mit sehr leichtem Gepäck, nämlich nur meinem Personalausweis, ein wenig Bargeld und meiner Oyster Card anreise. Keine gute Idee, denn Speis und Trank gibt es vor Ort nur gegen Plastikgeld. Überhaupt ist London auf dem besten Weg, bargeldlos zu werden: Nahezu überall ist Kartenzahlung möglich, Straßenmusiker werben damit, dass man auch „contactless“ spenden könne (ab £2) und selbst die Prommers, die nach den Konzerten an den Türen der Albert Hall Spenden für den guten Zweck sammeln, haben ihrem Sprechchor ein „P.S.: You can use your card at door 6!“ hinzugefügt.
Die Veranstaltung, so scheint es mir, ist ein wenig überorganisiert. Schon vom Bahnhof Canary Wharf aus weisen Schilder und Ordner den Weg, vor Ort Absperrungen, eine offenbar eigens aufgestellte Bedarfsampel, noch mehr Schilder, Security, Leibesvisitation, Taschendurchsuchung; es wird ein Aufwand betrieben, als handele es sich um ein mehrtägiges Festival mit zigtausenden Besuchern. Tatsächlich ist die große, ca. 3.000 Besucher fassende Main Hall bis zum Beginn des Hauptacts gut gefüllt. Ich habe einen Platz in einer Nische im vorderen rechten Teil ergattert, aus der ich mich bis Konzertende nicht wieder hinaustraue. Der Nachteil eines handelsüblichen Hallenkonzerts – normalerweise meide ich solche Situationen.
Nils Frahm beginnt sein Set mit leisen Tönen und schnell wird klar, dass einige der Anwesenden mit anderen Erwartungen gekommen sind: Ein Lauttelefonierer direkt vor mir erntet zunächst kollektives Augenrollen, wird dann aber nach kurzer Schonfrist energisch weg gemobbt („What are you here for?!“). Die Steigerung lässt dann aber nicht lange auf sich warten. Ich kannte „All Melody“ bisher nur als Konzertsaal-Veranstaltung und erfahre nun, dass es auch eine Clubversion gibt, die entschieden dynamischer daherkommt. Und nicht nur das: Keine Orgelpfeife schnarrt im Hintergrund, keine knochentrockene Raumakustik und kein Echo zerstört die Beats; der Sound ist glasklar und satt. Mir geht auf, dass das, was da vorne auf der Bühne passiert, für Räume wie diesen und nicht für den Konzertsaal gemacht ist. Nils Frahm redet wenig, improvisiert dafür umso mehr und hält nach wenigen Minuten das inzwischen mehrheitlich aufgepeitschte Publikum derart in der Hand, dass man bei „My friend the forest“, „The Dane“ und „Familiar“ beinahe die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören kann. Ich bin hingerissen und habe längst vergessen, dass mir der Magen knurrt und ich auf dem Trockenen sitze.
Es ist Freitagnacht, dennoch endet der Auftritt nach 1 1/2 Stunden pünktlich um 23 Uhr – offenbar eine Veranstaltervorgabe. Wieder werden wir wie eine Herde vom Gelände geschleust und auf einem kleinen Umweg zum Bahnhof gelotst, um Lärmbelästigung für Anwohner zu vermeiden. Alles im Prinzip nicht schlecht gedacht, aber ein wenig bevormundet fühle ich mich doch.
Zurück im Beit Quadrangle überlege ich noch kurz, mir gewissermaßen nachträglich im Innenhofpub noch ein Bier zu gönnen. Ich bin aber inzwischen derart müde, dass ich den Gedanken rasch wieder verwerfe und mich direkt ins Bett verfrachte.
Es folgt Teil drei meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.
Am nächsten Morgen kann ich während des Frühstücks im 1. Stock des Sherfield Building dabei zusehen, wie zwischen den Gebäuden des Imperial College ein neuer Queen’s Lawn verlegt wird. Ungefähr die Hälfte ist bereits fertiggestellt, gedeiht sichtbar und sieht überhaupt schon ziemlich englisch aus. Ich frage mich, wie oft die Fläche wohl erneuert werden muss.
Nach dem Frühstück mache ich mich auf nach Westen. Sorgfältig studiere ich den Plan der Londoner Underground, um auch ja einen Zug der District Line zu erwischen, der die Abzweigung nach Richmond befährt. Die Fahrt dauert ungefähr 25 Minuten. Der Weg von der Station Kew Gardens zum Victoria Gate führt an gepflegten Reihenhäusern vorbei, vor denen teure Fahrzeuge parken. Eine außerordentlich hübsche Lage und so nahe am Grün – wenn bloß die Flugzeuge nicht wären. Der nahegelegene Flughafen Heathrow sorgt für Überflüge im Minutentakt, ein Lärm, der mich während meines gesamten Aufenthalts begleiten wird.
Am Victoria Gate, dem Haupteingang zu den Royal Botanic Gardens, bin ich sehr froh, noch abends zuvor ein Onlineticket gebucht zu haben. Nicht nur, dass das £1,50 günstiger ist, man spart vor allem auch Zeit. Es ist mitten in der Woche, aber der Andrang an den Ticketschaltern ist groß. Die Mehrzahl der Wartenden scheint sich fürs (Kinder-)Theater zu interessieren: Gegeben wird „Alice im Wunderland“, die Vorstellung beginnt bereits um 10:30 Uhr.
Ich überfliege den Geländeplan und biege kurz entschlossen nach rechts Richtung Palm House und Kew Palace ab.
Was soll ich sagen: Kew Gardens ist wirklich wie eine TARDIS. Ich bin fast 5 1/2 Stunden auf den Beinen und habe am Ende nicht einmal die Hälfte gesehen.
Überall auf meinem Weg begegnen mir die Glaskunstwerke von Dale Chihuly.
Besonders viele Skulpturen sind im Temperate House versammelt, dem weltgrößten viktorianischen Gewächshaus, das 2018 nach fünfjähriger Restauration wiedereröffnet wurde. Die Ausstellung nennt sich „Reflections on Nature“; die insgesamt 32 Installationen auf dem Gelände sind noch bis 27. Oktober 2019 zu bewundern.
Ich schaffe es noch in die Marianne North Gallery und die Shirley Sherwood Gallery of Botanical Art, dann mahnt mich ein Blick auf die Uhr zum Aufbruch. Natürlich komme ich trotzdem nicht am hauseigenen Shop vorbei. Dort geht es hoch her und ich bin froh, als ich mit meiner Beute in der Bahn sitze.
Zurück in meinem Zimmer lege ich eine ausgiebige Pause ein, bis mir plötzlich aufgeht, dass ich mich gewaltig sputen muss: Irgendwie hatte ich 19:30 Uhr abgespeichert, tatsächlich beginnt aber der abendliche Programmpunkt, das Stück „The Lehmann Trilogy“ im Piccadilly Theatre, schon eine halbe Stunde früher. Das Stück dauert ca. drei Stunden, hat zwei Pausen und wenn es ich es nicht rechtzeitig schaffe, verpasse ich den gesamten ersten Teil. Ich nehme die Beine in die Hand und sprinte zur Station South Kensington, an der ausgerechnet jetzt die Rush Hour der heimreisenden Museumsbesucher beginnt. Jetzt zahlt sich meine Ortskenntnis aus: In Rekordzeit jage ich die Stufen und Rolltreppen hinunter und hinauf zum Gleis der Piccadilly Line und hechte in den Zug, der gerade in diesem Moment einfährt. Die Fahrtzeit beträgt rund 8 Minuten und ich schaffe es am Piccadilly Circus zwar nicht, auf Anhieb den nächstgelegenen Ausgang zu erwischen, aber immerhin stimmt die grobe Richtung. Fünf Minuten vor Ende der Abholfrist für vorbestellte Tickets komme ich mit hängender Zunge am Box Office an.
Danach muss ich erst einmal durchatmen. Ich schaue mich ein wenig um, suche und finde die Örtlichkeit und begebe mich schließlich zu meinem Platz in den Stalls.
Für das Ticket in der Mitte der dritten Reihe habe ich ein wenig tiefer als sonst in die Tasche gegriffen und bereue es während der folgenden drei Stunden keine Sekunde. Es lohnt sich allein der schauspielerischen Leistungen Simon Russell Beales, Adam Godleys und Dominik Tiefenthalers wegen. „An acting masterclass“, schreibt der Guardian und vergibt fünf Sterne.
Von mir bekommt die Livepianistin des Abends noch einen sechsten obendrauf.
Es folgt Teil zwei meiner diesjährigen London-Nachlese. Was zuvor geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.
Der erste Programmpunkt nach dem Frühstück am nächsten Morgen ist ein längst überfälliger Besuch der British Library. Ich habe ein Ticket für die Sonderausstellung „Leonardo da Vinci – A Mind in Motion“, welches mit einem Zeitfenster versehen ist und muss daher pünktlich zu Beginn der Öffnungszeit am Gebäude sein. In der Tube Richtung King’s Cross/St Pancras geschieht etwas äußerst Ungewöhnliches: Ein Pendler spricht mich an. Der Herr – ein Brite, schätzungsweise Anfang/Mitte 60, vielleicht älter, groß, sportlich, offenes Lächeln, perfekt sitzender Anzug, Krawatte, teures Schuhwerk, Rucksack und Tretroller – interessiert sich für meine Tasche: „I like your bag!“ Schnell findet er heraus, dass ich Touristin und aus Deutschland bin. In Hamburg sei er zuletzt als kleiner Junge gewesen, erzählt er. Ich verrate ihm, dass während meines Aufenthalts sehr wahrscheinlich die Royal Botanic Gardens in Kew besuchen werde. Das begeistert ihn. „The place is like a TARDIS!“ Er legt mir insbesondere die zurzeit dort ausgestellten Skulpturen von Dale Chihuly ans Herz. Es ist der Tag, an dem Boris Johnson seinen Antrittsbesuch bei Angela Merkel in Berlin absolviert. „Let’s hope she’ll be able to talk some sense into our idiot“, lautet sein Kommentar dazu. Am Piccadilly Circus verabschiedet er sich formvollendet, wünscht mir eine tolle Zeit und verschwindet im Gewühl.
Ich bin gegen 9 Uhr am Bahnhof King’s Cross und habe noch ein paar Minuten Zeit, um beim Platform 9 3/4-Shop vorbeizuschauen. Selbst zu dieser vergleichsweise frühen Stunde ist der Andrang am Trolley bereits beachtlich. Im Shop finde ich nichts, was ich unbedingt kaufen müsste. Er sieht ein wenig abgeräumt aus. Gegen 9:20 Uhr erreiche ich den Eingang der British Library und reihe mich in die Schlange ein.
Die Da Vinci-Schau enttäuscht mich. Ich bin nicht sicher, was ich erwartet habe, aber vielleicht doch etwas mehr als je ein paar Blätter aus dem Codex Arundel, dem Codex Forster und dem Codex Leicester, mit knappen Kommentaren versehen und ausgestellt in einem recht beengten, kellerartigen Raum. Eine Gruppe wird herumgeführt und durch die Ausführungen des Guides wird mir klar, warum die Codex Leicester-Blätter in speziell gesicherten Vitrinen präsentiert werden: Sie sind eine Leihgabe von Bill Gates, der die Sammlung 1994 für rund 30 Millionen Dollar erwarb. Es ist seither das erste Mal, dass Teile des Manuskripts wieder in Großbritannien zu sehen sind. Die Seiten sind in Spiegelschrift und natürlich in italienischer Sprache verfasst. Als umso hilfreicher entpuppt sich deshalb der mitgelieferte „Codescope“, eine interaktive Darstellung der Manuskriptseiten, mit der sich die Texte spiegeln, vergrößern und übersetzen lassen.
In einem weiteren sehr viel größeren Ausstellungsraum sind die besonderen Schätze der British Library versammelt. Ich komme aus dem Staunen nicht wieder heraus: Nicht nur alte Land- und Seekarten, zahlreiche Manuskripte, die obligatorische Gutenberg-Bibel und eines von nur vier erhaltenen Exemplaren der Magna Carta sind zu bewundern, sondern auch historische Berichte von der Sichtung des Ungeheuers von Loch Ness aus dem 12. Jahrhundert bis zum Regierungsmemorandum über die Osteraufstände von 1916. Im Abschnitt „Science“ findet sich neben dem Brief von Ada Lovelace an Charles Babbage aus dem Jahr 1869, der als erste Beschreibung eines Computerprogramms gilt, auch das Tagebuch von Robert Falcon Scott. Natürlich darf auch Literarisches nicht fehlen; vertreten sind unter anderen William Shakespeare, Robert Burns, Jane Austen, Charles Dickens, Virginia Woolf und Ian Fleming. Und Musik! Gezeigt werden Manuskripte von Bach, Mozart, Händel, Vaughan Williams und Elgar – die „Enigma Variations“, natürlich, aufgeschlagen ist der „Nimrod“ – sowie der Beatles-Songtexte „Yesterday“ und „Strawberry Fields Forever“.
Auch das Gebäude der British Library gefällt mir gut. Aus der Eingangshalle führen Stufen hinauf zu den Lesesälen und zur King’s Library, die in einem gläsernen Turm ausgestellt ist und so optisch den Kern der Sammlungen bildet.
Die Lesesäle sind für registrierte Nutzer reserviert. Für den Besuch der Da Vinci-Ausstellung, das ausgiebige Bewundern der Schätze und das Stöbern im hauseigenen Shop habe ich fast zwei Stunden gebraucht. Ich nehme mir vor, einen nächsten Besuch mit entweder einer „Building Tour“ oder der „Conservation Studio Tour“ zu verbinden.
Auf meiner Liste steht noch ein weiteres Bücherparadies in der Nähe. Der Weg dorthin führt mich durch den Bahnhof St Pancras International. Ich erstehe ein Mittagspausensandwich, suche und finde die Brücke über den Regent’s Canal und gelange an einen großen Platz, dem Granary Square, auf dem sich zahlreiche Foodtrucks eingefunden haben.
„Coal Drops Yard“ nennt sich die Ecke an einem Ende, ein ehemaliges Kohlelager, in dem Restaurants und Läden der Kategorie teuer, individuell & künstlerisch wertvoll untergekommen sind (unter anderem ein Craft Jeans Maker). Daneben befindet sich das Gebäude des Central Saint Martin, einem College der University of the Arts London. Worauf man als Auswärtiger erst kommen muss, denn auf der Beschilderung wird die Abkürzung „ual“ nicht aufgelöst. Auffällig sind die bunten „Semaphores“-Skulpturen von Amalia Pica.
Östlich des Gastropubs „The Lighterman“, auf dem einer der beiden Chappe-Telegrafen steht, finde ich schließlich den Liegeplatz von „Word on the water“. „Bookbarge“ – allein das Wort! Was für eine herrliche Kombination!
Ich durchstöbere das gesamte Schiff, wechsele einige Worte mit dem Inhaber und begebe mich zurück zum Bahnhof. Um 14 Uhr will ich an der U-Bahn-Station Hampstead sein. Von dort startet nämlich die „Old Hampstead Village“-Tour von London Walks.
Frei nach dem Motto: Kein Londonaufenthalt ohne London Walks! In diesem Jahr schaffe ich leider nur eine Tour, die sich dafür aber als besonderes Juwel entpuppt. Was nicht unwesentlich an Richard III liegt, dem Guide.
Nach der kurzen Einführung auf der Heath Street biegen wir ab in die Church Row. Spätestens ab hier wird klar, warum der Stadtteil von den Reichen und Berühmten besonders geschätzt wird: Er liegt ruhig, ist sehr grün, überhaupt von ausgesprochen ländlichem Charakter und trotzdem braucht man nur rund zwanzig Minuten mit der Tube bis zum Piccadilly Circus. Entsprechend sind die Immobilienpreise: Wir stehen vor dem ehemaligen Wohnsitz von Ridley Scott und hören, dass er das Haus vor einiger Zeit für rund 22 Millionen Pfund verkauft hat.
Ich erfahre einiges über den früheren Badeort Hampstead, über die du Maurier-Familie, John Constable, John Keats und über Champagner-Sozialisten, lerne, dass sich bei dem örtlichen „Old Bull and Bush“-Pub um ebenjenes Etablissement aus dem Music Hall-Song „Down at the Old Bull and Bush“ handelt und dass Hampstead Heath zur City of London gehört und bereits im 19. Jahrhundert per Gesetz vor Bebauung geschützt wurde.
Auf dem Weg durchs Grün trampeln wir quer durch etwas, was zuerst wie ein exzentrisches Picknick aussieht, sich dann aber als Filmset entpuppt. Apropos: Der Gruppe wird unter anderem ein Besuch des Kenwood House empfohlen und das nehme ich mir für meinen nächsten Ausflug in die Heide ganz fest vor.
Richard III trägt seine Schilderungen mit feinem Humor vor, der bisweilen mit einer Prise Sarkasmus gewürzt ist. Am Friedhof wird die Gruppe um einen Augenblick Stille gebeten, damit besser zu hören ist, wie Hugh Gaitskell, ein früherer Labour-Parteichef, in seinem Grabe rotiert. Wann immer die Rede auf aktuelle politische Ereignisse kommt, beendet unser Guide den Anflug mit einem „but let’s not go there“ – und der Tonfall spricht Bände. Ich habe schon einige Walks absolviert; alle Guides waren gut, einige waren sehr gut, aber Richard III spielt unbestritten in einer eigenen Liga. Chapeau!
Eigentlich bin ich rundum platt, als ich gegen 17 Uhr zu meiner Unterkunft zurückkehre. Aber ich bin schließlich nicht zum Schlafen in der Stadt. Das Wetter zeigt sich sommerlich und auf der Webseite des Southbank Centre lese ich, dass dort umsonst und draußen die „Rocky Horror Picture Show“ gezeigt wird. Nach einer kurzen Verschnaufpause breche ich also wieder auf, fahre mit der Tube bis zur Station Embankment und spaziere über eine der beiden Golden Jubilee Bridges. Schon über 24 Stunden bin ich in der Stadt und erst jetzt komme ich zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder ans Themseufer.
Das Open Air-Kino am Southbank Centre wird von Electric Pedals präsentiert. Das bedeutet, dass der zur Vorführung des Films benötigte Strom von den Kinobesuchern biomechanisch durch fleißiges Betrampeln der bereitgestellten Drahtesel produziert werden muss. Eventuelle Stromengpässe werden durch eine Ampel angezeigt, aber dazu kommt es an dem Abend erst gar nicht. Das Publikum ist erwartungsgemäß bunt und gut gelaunt. Keine Versammlung von Hardcore-Fans, aber ein paar Reiskörner verirren sich doch in meine Jacke. Gegen Ende des Films taucht vor der Leinwand ein als Frank-N-Furter kostümierter Zuschauer auf, der textsicher die gesamte Choreographie mittanzt und dafür mit viel Applaus belohnt wird. Auch die Southbank Centre-Crew bedankt sich anschließend bei dem „Man in fancy dress… or regular dress!“, was einige Heiterkeit auslöst. Ich laufe zurück zur U-Bahn und bin nun endgültig reif für die Horizontale.
Seit Tagen schon will ich mit der Nachlese zu „London (Part IV)“ beginnen, weiß aber nicht so recht, wie.
Vielleicht sollte ich mit der Vorfreude anfangen. Nach den Aufenthalten 2016 und 2017 habe ich 2018 einmal aussetzen müssen, des Jobwechsels wegen. Das ist mir überraschend schwergefallen. Zum Ausgleich nahm ich mir für 2019 einen längeren Aufenthalt auf der Insel vor. Ein paar Tage London, dann vielleicht hoch nach Schottland. Oder in den Lake District. Oder den Peak District. Oder in die Yorkshire Dales. Oder erstmal nach Wales. Aber da war ja auch noch die Sache mit dem Brexit. Man erinnere sich: Im Februar, als ich meinen Urlaub zu planen begann, stand als Austrittstermin noch der 29. März zur Debatte. Einen zwei- bis dreiwöchigen Aufenthalt ausschließlich mit ÖPNV-Transfers mitten ins „Deal or No Deal“-Ungewisse zu verlegen – vielleicht doch keine so gute Idee. Ich verwarf meine Überlegungen, entschied mich per Unterkunftsreservierung zu einem sechstägigen Londonaufenthalt und buchte daneben noch einen zehntägigen Ostsee-Segeltörn.
Ich hätte im Traum nicht gedacht, dass zum Zeitpunkt meines Aufenthalts der Brexit immer noch nicht vollzogen sein würde. Von der Möglichkeit, dass Boris Johnson britischer Premierminister werden könnte ganz zu schweigen.
Die London-Tage mit Inhalt zu füllen, fiel mir angesichts des reichhaltigen Angebots nicht sonderlich schwer. Die BBC Proms waren natürlich gesetzt, außerdem wollte ich als bekennender NT Live-Fan unbedingt auch mal eine National Theatre-Produktion vor Ort besuchen. Das Musical („Jesus Christ Superstar“) im Barbican Centre reizte mich weniger, die Backstage-Führung dafür umso mehr. Und noch während ich über den Kauf eines Tickets für ein Kammermusikkonzert in St Martin in the Fields nachsann, kündigten Erased Tapes zu ebendiesem Datum einen Auftritt von Nils Frahm im Londoner Süden an. Innerhalb kürzester Zeit baute sich so in meinem Terminkalender eine nahezu perfekte Aneinanderreihung von Highlights auf. Die Tage bis zum Abreisedatum zogen und zogen sich…
Die Anreise verläuft ohne jeden Zwischenfall. Bis zum Check In-Zeitfenster meiner Unterkunft habe ich eine knappe Stunde zu überbrücken. Da kommt mir der wöchentliche Farmers Market auf bzw. am Queen’s Lawn sehr gelegen. Bei strahlendem Sonnenschein stärke ich mich mit einem Pulled Lamb-Burger und einem extrem schokoladigen Brownie – ein guter Anfang. Es ist Mittagspausenzeit: Der Markt ist gut besucht, das Publikum überwiegend studentisch und sehr international. Anschließend setze ich mich ein Viertelstündchen in den Innenhof des Beit Quadrangle, einem Gebäudekomplex unmittelbar neben der Royal Albert Hall, in dem auch mein Zimmerchen liegt. Wie schon vor zwei Jahren habe ich mich auch diesmal wieder in eines der Studentenwohnheime des Imperial College eingebucht. Beit Hall ist von außen wesentlich hübscher als Prince’s Gardens. Von innen betrachtet entpuppt sich die historische Substanz jedoch als weniger charmant. Dessen ungeachtet ist das Zimmer sauber und ordentlich und für meine Zwecke vollkommen ausreichend. Ich habe Glück: Das Fenster geht nach hinten raus, zum Hinterhof der Holy Trinity Church. Der Innenhof des Beit Quadrangle mag idyllisch erscheinen, beherbergt aber eine Bar mit Außenplätzen und der beachtliche Lärmpegel sinkt auch nach Beginn der offiziellen Nachtruhe nicht signifikant. Gut zu wissen fürs nächste Mal.
Nach dem Bezug des Zimmers muss ich erst einmal richtig ankommen. Ich laufe um die Albert Hall Richtung Albert Memorial und Kensington Gardens.
Fast zwei Stunden lang spaziere ich durch den Park und komme schließlich an einem schattigen Plätzchen im „Sunken Garden“ des Kensington Palace zur Ruhe. 2017 noch als „White Garden“ zu Ehren von Diana, Princess of Wales gestaltet, steht hier 2019 der 200. Geburtstag von Queen Victoria im Vordergrund.
Im collegeeigenen Minisupermarkt besorge ich mir anschließend meinen Lieblingstee und ein Sandwich und stimme mich auf den abendlichen Programmpunkt ein: die Prom 44 „Belshazzar’s Feast“ mit Sir Simon Rattle, dem London Symphony Orchestra, Gerald Finley, dem London Symphony Chorus, dem Orfeó Català und dem Orfeó Català Youth Choir.
Ich habe im zweiten Anlauf einen Gangplatz in den Stalls ergattert, Buchstabe M, Reihe 9, mit einem sehr guten Blick auf die Bühne. Schon nach wenigen Minuten vor Ort fällt mir ein Mann auf, der schräg gegenüber sitzt, von zahlreichen Konzertbesuchern persönlich begrüßt wird und mir irgendwie bekannt vorkommt. Das Sitzen fällt ihm schwer. Er wirkt angespannt, springt immer wieder auf und unterhält sich mit einer Reihe von Personen direkt hinter mir, die mit spanischem Akzent sprechen. Offenbar geht es um eine Reise nach Schottland am folgenden Tag. Es dauert eine Weile, bis mir aufgeht, dass dies sich eventuell auf den Gastchor des Abends, dem Orfeó Català, bezieht.
Schließlich beginnt das Konzert und zunächst haben Sir Simon Rattle und das LSO meine volle Aufmerksamkeit. „Les Bandar-Log“ von Charles Koechlin und „Amériques“ von Edgard Varèse gefallen mir gut. Leider fällt die knackige Schärfe einiger Passagen – insbesondere des Stücks von Varèse, bei dem sage und schreibe zehn Schlagwerker zum Einsatz kommen – der halligen Akustik zum Opfer. Was aber durch die sehr spezielle Proms-Stimmung mehr als wettgemacht wird. Insbesondere der Einsatz von Sirenenlauten in „Amériques“ löst beim Publikum Heiterkeit aus. Eine Reaktion wie diese hätte in der Elbphilharmonie bei einem Abokonzert oder einer Veranstaltung im Rahmen des Internationalen Musikfests vermutlich peinlich gewirkt. Die BBC Proms sind dagegen schon von der Grundidee her kein elitäres Festival und allein deshalb niemals bierernst zu nehmen. Dazu tragen nicht zuletzt die Prommers mit ihren teils bizarr anmutenden Ritualen bei. Wer die „Konzerte für Hamburg“ ins Feld führt, übersieht, dass diese Reihe für ein lokales, wenig klassikaffines Publikum konzipiert ist und im Konzertprogramm eine Nebenrolle spielt. Was man von den BBC Proms nun wirklich nicht behaupten kann. Eine riesige musikalische Bandbreite, Karten in allen Preisklassen, extensive Übertragung in Funk und Fernsehen: „Für alle“ funktioniert hier. Und sei es auch nur auf diesem einen Sektor.
Zurück zur Prom 44. Die Pause beginnt und mein Gegenüber wird zusehends nervöser. Ein Eisverkäufer läuft an mir vorbei, ich stoppe ihn, gönne mir einen Becher und freue mich darüber, den Zuschauerraum dafür nicht verlassen zu müssen. Rund drei Jahre sind vergangen seit meinem ersten und bisher einzigen Proms-Konzert. Eine gefühlte Ewigkeit. Ich will die Atmosphäre in vollen Zügen auskosten.
Der zweite Teil des Konzerts besteht aus „Belshazzar’s Feast“, einer Kantate von William Walton. Ich kannte zuvor weder das Stück noch den Komponisten und komplettiere meine Konzertvorbereitung durch das zwar werbelastige, aber ansonsten gut gestaltete Programmheft. In der Albert Hall werden nun alle Register gezogen: Im Gestühl hinter der Bühne mit dem LSO ziehen rund 300 Sängerinnen und Sänger auf, der Orgelspieltisch wird besetzt. Henry Woods Büste wirkt plötzlich sehr klein. Zwischenzeitlich bin ich mir nicht sicher, ob Orchester und Chöre noch synchron sind, aber auch hier wird die Raumakustik eine Rolle gespielt haben. Der Wirkung tut das keinen Abbruch. Ich bin überwältigt.
Dennoch fällt mein Blick immer wieder auf den nervösen Herrn jenseits des Ganges. Er sitzt wie auf Kohlen, singt, nein, fiebert jeden Choreinsatz mit. Kaum ist der letzte Ton verklungen, springt er auf, rast wie der Blitz aus dem Zuschauerraum, um wenige Minute später neben Sir Simon Rattle auf der Bühne aufzutauchen. Ich zücke mein Smartphone, bemühe Tante Google und finde heraus, dass es sich um Simon Halsey handelt, dem Leiter des London Symphony Chorus und Chordirektor des Orfeó Català. Er darf neben gleich drei Ehrendoktortiteln vor seit 2015 auch ein „CBE“ hinter seinem Namen führen, hat die „Queen’s Medal for Music“ verliehen bekommen und ist obendrein noch Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse. Laut Wikipedia hat er in Deutschland u. a. mit den Berliner Philharmonikern und als Berater für das Schleswig-Holstein Musik Festival gearbeitet und war von 2001 bis 2015 Chefdirektor des Rundfunkchors Berlin. Vielleicht habe ich ihn tatsächlich schon einmal auf irgendeiner Bühne stehen sehen.
Nach dem Konzert treibe ich mich noch eine Weile am Künstlerausgang herum, beobachte, wie Musiker mit ihren Instrumentenkoffern die Treppen zur Prince Consort Road hinunterlaufen und lausche dem Stimmengewirr der umher stehenden Chormitglieder. Es ist großartig. Ich bin wirklich da. Und mittendrin.
Eigentlich hätte nach der Postkarte aus London noch eine zweite folgen sollen: Nach sechs prall gefüllten Tagen in der britischen Hauptstadt und einer kurzen Pufferpause war ich nämlich noch neun Tage auf dem Wasser unterwegs. Während dieser Reise, die uns an die Westküste Schwedens hätte führen sollen, habe ich jedoch kein einziges Foto geschossen. Nichtmal mit dem Smartphone. Wer mich etwas kennt, der weiß, dass das äußerst ungewöhnlich ist. Gelinde gesprochen.
Über den Törn, den ich unter „Erfahrung“ verbuche, werde ich an dieser Stelle aus verschiedenen Gründen nicht weiter berichten.
Dagegen werde ich den London-Aufenthalt natürlich nachtragen und auch mit aktuellen Fotos bebildern, denn die eingangs erwähnte Postkarte ziert ein Archivbild. Da an, neben und unter der Albert Hall schon seit geraumer Zeit fleißig gebaut wird, ist es momentan schwierig, Postkarten-Fotos von dem Gebäude zu machen.