London (Part III): Tag 3

Zeit für „London (Part III) – die Nachlese“! Es folgt die Rückschau auf Tag 3. Was zuvor bzw. im letzten Jahr geschah, kann bei Interesse unter dem Schlagwort London nachgelesen werden.

Auch dieses Mal mache ich wieder den Fehler, ein Programm für zwei Wochen in sieben Tage pressen zu wollen. Die Stadt ist einfach zu groß dafür; selbst wenn man die Transfers geschickt vorplant, erfordern alle Wege von A über B nach C grundsätzlich mehr Zeit, als zuvor am Reißbrett ausbaldowert. Das merke ich am dritten Tag, als ich „nur mal eben“ durch den Hyde und Green Park laufen, bei Fortnum & Mason etwas besorgen und einen kurzen Blick in Burlington Arcade und Savile Row werfen will. Bis ich damit durch bin, wird es für mein Vorhaben, zwei bestimmte Orte in der Nähe von Euston Station und St. Pancras/King’s Cross zu besuchen, schon ziemlich knapp. Ab 14 Uhr möchte ich nämlich an der London Walks-Führung durch Kensington teilnehmen, um näheres über den Stadtteil zu erfahren, in dem meine Unterkunft liegt.

Aber zunächst zurück nach Mayfair. Um in der Burlington Arcade shoppen gehen zu können, müsste ich in eine ganz andere Gehaltsklasse springen. Aber schön anzusehen ist sie, keine Frage, und dann hängt da auch noch ausgesprochen hübsche Kunst!

Burlington Arcade
Burlington Arcade
"Birds" von Mathilde Nivet
„Birds“ von Mathilde Nivet

Als weniger hübsch erweist sich die Savile Row, bekannt als erste Adresse für maßgeschneiderte Herrenbekleidung. Zwar sind einige ansprechende Schaufenster zu bewundern, aber der einst wohl erheblich noblere Gesamteindruck wird unter anderem dadurch geschmälert, dass sich an der Ecke Burlington Gardens/Savile Row eine Abercrombie & Fitch-Filiale befindet. Was man riecht, bevor man es optisch wahrnimmt. Örks.

"Is it overcoat weather?"
„Is it overcoat weather?“

Schon etwas abgehetzt mache ich mich dann auf den Weg zur Euston Station. Dass ich in Speedy’s Café nichts essen oder trinken, sondern in meiner Eigenschaft als Sherlock-Aficionado nur schnell ein Foto von dem Gebäude schießen will, verschafft mir für die Platform 9 3/4 in King’s Cross ein wenig Muße.

Rather a tourist trap nowadays
Rather a tourist trap nowadays

Die braucht man auch, denn sowohl am Trolley als auch im Shop direkt daneben drängen sich die Menschen. Ein ausgesprochen fröhliches Treiben, ich kann mich nicht erinnern, je eine so gut gelaunte Warteschlange gesehen zu haben.

Mit dem Trolley zum Gleis 9 3/4
Mit dem Trolley zum Gleis 9 3/4

Am Trolley kann man sich, mit Zauberstäben und Schals in den gewünschten Häuserfarben ausgestattet, professionell ablichten lassen. Ein freundliches Helferlein sorgt dafür, dass die Schals im richtigen Moment wehen, um den Bildern Dynamik zu verleihen. Das entsprechende Kommando des Fotografen lautet „… and: scarf!“ und sowohl die jeweiligen Protagonisten als auch ausnahmslos alle Umstehenden haben großen Spaß dabei.

Platform 9 3/4
Platform 9 3/4

Der Shop ist in etwa so eingerichtet, wie man sich einen echten Zauberladen in der Winkelgasse vorstellt. Es werden dort neben allerhand lizenziertem Ramsch auch die hochwertigen Strickwaren des schottischen Betriebs angeboten, der die Verfilmungen ausgestattet hat. Mein Widerstand ist schnell dahin und ich erstehe einen original Ravenclaw-Schal – Gryffindor kann schließlich jeder.

Nach einer knappen Stunde sprinte ich zurück in die Tube und erreiche so noch rechtzeitig den Beginn der Führung am Bahnhof High Street Kensington. Da The Roof Gardens, normalerweise die erste Station und eines der Highlights des Walks, leider wegen einer Veranstaltung nicht öffentlich zugänglich sind, halten wir uns recht lange am Kensington Square und bei den Berühmtheiten auf, die die Gegend einst bewohnt haben. Besonders viel Strecke machen wir dadurch nicht, aber auch bei diesem Ausflug mit London Walks bekomme ich wieder Ecken zu sehen, in die ich so sonst nicht gekommen wäre und Geschichten erzählt, die in keinem der handelsüblichen Reiseführer stehen. Das lohnt sich einfach immer.

Kensington Square
Kensington Square

Nach einem kleinen Zwischenstopp im Quartier geht es am Abend ins Theatre Royal Haymarket und zur Royal Shakespeare Company. Das Theater existiert seit 1720 und zählt somit zu den ältesten noch im Betrieb befindlichen Spielstätten Londons. Die Innenausstattung ist dementsprechend grandios. Das Stück heißt „Queen Anne“ und ist, anders als Titel, Bühnenbild und Kostüme vermuten lassen, ein zeitgenössisches Werk. Zu meiner Freude habe ich keinerlei Verständnisprobleme und kann mir so von dem großartigen Ensemble die mir zuvor unbekannte Geschichte der Königin erzählen lassen, die England von 1702 bis zu ihrem Tod im Jahr 1714 regierte und auf deren Betreiben unter anderem die politische Vereinigung von England und Schottland zu Großbritannien („Act of Union“) zustande kam.

Das Stück dauert inklusive der Pause fast drei Stunden. Gegen Ende beschleichen mich leichte Konzentrationsprobleme. Das stramme Tagesprogramm fordert seinen Tribut und ich nehme mir fest vor, es von jetzt an langsamer angehen zu lassen.

Internationales Sommerfestival 2017 auf Kampnagel

Ich bin seit 2014 großer Fan des Internationalen Sommerfestivals. Seinerzeit lockte mich Chilly Gonzales mit „The Shadow“ auf das Kampnagel-Gelände. Von der Festivalatmosphäre angefixt, hangelte ich mich im Anschluss von einem Highlight zum nächsten, darunter „Nufonia must fall“ von Kid Koala und mein allererstes Orchesterkaraoke mit den Jungen Symphonikern.

Da ist die Sommerstimmung, der jährlich neu formierte Avant-Garden und das große Foyer, in dem Künstler, Mitarbeiter und Besucher bunt durcheinander wuseln – bisweilen derart bunt, dass man sich trotz Verabredung verpassen kann -; alle Sorten Kunst kommen vor, mit vielen Sorten Mensch von überallher und die Kollegen von cohen + dobernigg offerieren die dazu passende Literatur. Mit einem Wort: Es ist großartig.

#Juan2017: Mit Sicherheit unsicher

In diesem Jahr hatte das Sommerfestival ein Gesicht: Unter dem Hashtag #Juan2017 und mit dem Slogan „Mit Sicherheit unsicher“ dominierte das Konterfei des Kampnagel-Spitzenkandidaten Juan Dominguez das Gelände und gefühlt auch die halbe Stadt. Ein schönes Lehrstück darüber, wie man mittels massiver Plakatierung in kürzester Zeit gesichtsbekannt werden kann.

Notausgang freihalten

Spiegelspiele

Der Festival Avant-Garden, gestaltet vom Studio für Experimentelles Design der HFBK Hamburg, glich einem Spiegelkabinett: Hinter den großen Wänden war unter anderem auch die Gastronomie versteckt, was einige Orientierungsprobleme mit sich brachte.

Orientierungshilfe

Glotz nicht

Nicht im Bild: Die splitternackten Skulpturendarsteller, die wetterbedingt zu zeitweisen Ausflügen in die Innenräume gezwungen waren. Die Aktion irritierte und amüsierte gleichermaßen. Den Ausruf „Huch, die sind ja echt!“ hörte ich mehr als einmal.

Meine Programmauswahl ist zwar auch nach vier Jahren immer noch sehr musiklastig, ich meide konsequent Performances mit (un-)freiwilliger Zuschauerbeteiligung und suche in erster Linie nach Unterhaltung und nicht nach Auseinandersetzung oder gar Provokation. Aber ganz allmählich verschiebt sich der Schwerpunkt von Musik Richtung Tanz und Theater. Es hilft dabei enorm, dass sich viele Festivalveranstaltungen nicht an gängige Genregrenzen halten.

Michael Clarke Company: To a Simple, Rock ’n‘ Roll… Song

Wer wie ich ein Ticket für die Deutschlandpremiere am ersten Festivaltag ergattert hatte, konnte als Nebeneffekt ein Gläschen Sekt zu den Eröffnungsredebeiträgen im Avant-Garden genießen. Gut zu wissen! Ich merke es mir fürs nächste Jahr.

Im Vorfeld war viel von einer Hommage an David Bowie die Rede. Tatsächlich wurde nur der letzte von insgesamt drei Akten mit der Musik Bowies untermalt. Die einzelnen Akte wurden durch eine kurze und eine lange Pause unterbrochen, obwohl das Stück mit einer knappen Stunde Nettolaufzeit nicht sonderlich lang war. Das war der Konzentration auf das Gesamtkunstwerk nicht förderlich. Mir ist es nicht gelungen, dem roten Faden zu folgen, der dem Projekt zweifelsohne zugrunde liegt. Dazu kamen verwirrende Informationen im Programmheft, bestes Beispiel: Dafür, dass der zweite Akt aus drei Teilen bestehen sollte, war er meines Erachtens viel zu kurz. Ist jetzt schon die große Pause oder kommt da noch was? Ich war mit diesem Fragezeichen nicht allein und die Begeisterung, die die Weltpremiere im Londoner Barbican Centre ausgelöst hatte, konnte ich nicht teilen. Mir war es zu glatt, zu streng und trotz der (kalkulierten?) Wackler im ersten Teil zu perfekt – um das böse Wort „langweilig“ zu vermeiden.

Socalled & Friends: The 2nd Season featuring Fred Wesley

Von Langeweile konnte bei „The 2nd Season“ dagegen nicht die Rede sein. Dafür sorgte allein schon das Bühnenbild: Auf zweieinhalb Ebenen waren Puppenspieler, Tänzer und Musiker untergebracht, wobei dem Posaunisten Fred Wesley als Darsteller und Star des Abends ein herausgehobenes Plätzchen gewissermaßen zwischen den Welten reserviert war. Die Story hatte keine sonderliche Tiefe, aber Umsetzung und musikalisches Level verdienten das Prädikat Weltklasse.

Unter den Musikern war unter anderem das Kaiser Quartett anzutreffen, bekannt durch die Auftritte mit Chilly Gonzales (siehe oben) und dieser Tage auch anderweitig viel beschäftigt. Zumindest in einem Punkt mussten sich die vier Streicher auf Kampnagel nicht umgewöhnen, saß doch mit Josh Dolgin aka Socalled ebenfalls ein Kanadier am Flügel und gab den Ton an.

Philippe Quesne: Die Nacht der Maulwürfe

Es hilft beim Genuss eines Theaterabends ungemein, wenn man von vorneherein weiß, dass das Stück keine Handlung hat. „The Night of the Moles“ ist simpel, derb und grotesk, aber darüber ließ sich gut hinwegsehen: Bühnenbild, Requisite, Beleuchtung, Projektionen und vor allem Kostüme sowie die schauspielerischen und musikalischen Darbietungen (das Theremin!) boten ausreichend Faszination.

Neben den Auftritten in der K6 machten die Maulwürfe im Rahmen einer Parade außerdem noch Teile der Hamburger Innenstadt und die Elbphilharmonie-Plaza unsicher.

Wolfgang Voigt presents GAS live

Apropos Elbphilharmonie. Als ich am zweiten Festivalsonntag einen nahezu verwaisten Avant-Garden vorfand, hatte ich kurzzeitig die terminliche Überschneidung mit dem MS Dockville in Verdacht. Dann erst fiel mir wieder ein, dass die Elbphilharmonie in diesem Jahr erstmals Spielstätte des Sommerfestivals war. Normalerweise hätten zu diesem Zeitpunkt endorphinbeglückte Besucher des Orchesterkaraokes das Kampnagel-Foyer geflutet. Stattdessen herrschte dort gähnende Leere, denn das Karaoke fand in der Elphi statt und von der Schwierig- bzw. Unmöglichkeit, an die Tickets zu kommen, möchte ich erst gar nicht anfangen. Künftig werde ich also wohl nicht nur die Kampnagel-Konzerte des NDR Elbphilharmonie Orchesters schmerzlich vermissen müssen. Sehr schade.

Wolfgang Voigt präsentierte sein Musikprojekt GAS in der kleinen K2, die trotz der Konkurrenzveranstaltung am prominenteren Ort einigermaßen gut gefüllt war. Die Mischung aus Projektionen und Liveelektronik war grundsätzlich stimmig und stimmungsvoll, aber ein bisschen weniger Wumms in der Anlage hätte den Ohren gutgetan. Ich wankte anschließend weniger narkotisiert als gerädert aus dem Saal.

Eisa Jocson: Your Highness

Mein Beweggrund für den Besuch von „Your Highness“ war reine Neugier: Welche Form erhält ein zeitgenössisches Projekt, das sich mit Ballett- und Disneyprinzen bzw. -prinzessinnen beschäftigt? Die Antwort: Eine überraschend klassische, aber als Mittel zum Zweck. Die fünf Tänzerinnen und Tänzer tanzten und ironisierten gleichzeitig Standards aus klassischem Ballett und Versatzstücke der Disney-Welt im fließenden Übergang und das in einer technisch nahezu perfekten Ensembleleistung. Beklemmend und faszinierend. Kostüme und Bühnenbild taten das Übrige dazu. Einziger Kritikpunkt: Etwas kürzer hätte es ausfallen können. Es gab einen natürlichen Schlusspunkt, der dann doch keiner war. Das mag als taktische Publikumsverwirrung gedacht gewesen sein, schmälerte aber die Wirkung des Stücks ein wenig.

Presse

Verpasst habe ich neben dem Orchesterkaraoke und dem Konzert von Rufus Wainwright (Ach! Elphi!) leider auch Mocky and Friends. Wenn ich geahnt hätte, dass Chilly Gonzales dort als Gastmusiker… Aber es wird wohl nicht sein letzter Auftritt an der Jarrestraße gewesen sein. Und der nächste Sommer kommt bestimmt.

A Summer’s Tale 2017

Da musste ich also stolze 44 Jahre alt werden, um das erste Mal „so richtig“ ein Festival zu besuchen. „So richtig“ im Sinne von alle Tage morgens bis abends da sein und auf dem Gelände campen – das eine, inzwischen eh verjährte MS Dockville-Tagesticket kann man wohl nicht dazuzählen. Mit „A Summer’s Tale“ bin ich gleich von null auf Zweihundertfünfzig gegangen und da liegt die Latte jetzt: ziemlich weit oben.

Natürlich hätte ich von Hamburg aus auch pendeln können. Grundsätzlich erschien mir das Shuttlebuskonzept schlüssig, nur erweitert leider weder die Deutsche Bahn noch der metronom seinen Takt, bloß weil irgendwo am buchstäblichen Arm der Heide ein Festival stattfindet. Was dumm ist für die, die auch den letzten Musikact des jeweiligen Tages sehen wollen. Das ist mit den Zugabfahrtzeiten leider gar nicht kompatibel. Also organisierte ich kurz entschlossen ein Leihzelt, buchte ein Kombiticket mit Komfort-Camping und bekam glücklicherweise obendrein noch eine Mitfahrgelegenheit angeboten.

Insbesondere den Campern sei empfohlen, die Gepäckbestimmungen genau zu studieren. Der Veranstalter hat unter anderem ein striktes Glasverbot verhängt, was sich keineswegs nur auf Wein-, Bier- und andere Flaschen bezieht. An der Kontrolle mussten beispielsweise auch Marmeladen- und Pestogläser abgegeben werden. Einerseits verständlich: Niemand möchte Glasscherben auf den Plätzen haben, weder die Festivalteilnehmer noch die, die das Gelände ansonsten nutzen. Andererseits ist Nachhaltigkeit ein großes Thema bei „A Summer’s Tale“ und zur Plastikmüllvermeidung trägt eine solche Strategie wenig bei.

Andere Tücken im Detail waren schwieriger zu recherchieren. So manches Angebot entpuppte sich erst vor Ort als kostenpflichtig und teilweise auch recht kostspielig.

Kräuterwanderung
Kräuterwanderung

Knifflig war auch die Sache mit den Workshops. Ein Teil der Plätze konnte online gebucht werden und um eines der übrigen Tickets zu ergattern, musste man sich mit einer Vorlaufzeit von zwischen einer halben und einer Dreiviertelstunde in die sich zuverlässig bildende Schlange einreihen. Das Prinzip fand auch bei Programmpunkten Anwendung, die zwar keiner Anmeldung bedurften, für die es aber sehr wohl eine maximale Teilnehmerzahl gab. Die Information darüber hätte so manchem Besucher Frustration erspart, fehlte aber sowohl auf der Webseite als auch in der (ansonsten fabelhaften) Festival-App.

Mäh

Zugvögel

Dass die Abgewiesenen dennoch zumeist gelassen blieben, sagt eine Menge über die Grundatmosphäre des Festivals aus. „Entspannt“ ist wohl das am häufigsten genannte Adjektiv, wenn es darum geht, „A Summer’s Tale“ in einem Wort zu beschreiben. Ich habe noch keine Veranstaltung mit Familien, Grüppchen, Paaren und Einzelbesuchern in derart friedlicher Koexistenz erlebt. Für kleine und kleinste Festivalteilnehmer gab es eine große Auswahl an Beschäftigungsmöglichkeiten, ohne dass der Eindruck entstand, dass es sich um ein reines Familienevent handelte. Bei den Konzerten bis spät in die Nacht tobten Kinder durch die Menge, zumeist mit knallbuntem Gehörschutz bestückt, und niemand störte sich daran – ganz im Gegenteil.

Mut zur Farbe
Mut zur Farbe

Heile Welt in der Heide also und tatsächlich wurde sogar gebatikt. Darüber hinaus war ein Großteil des Programms jedoch erfreulich handfest. Auch beim kulinarischen Angebot standen zwar Bio und regional im Vordergrund, aber fleischlos oder gar vegan musste sich niemand ernähren, der das nicht wollte. Es wäre insbesondere schade gewesen um die Sandwiches von Frau Dr. Schneider’s Grilled Cheese Wonderland, die sauleckeren Gnocchi von Santa Mamma (mit extra viel Parmesan) und den Don Caramello-Becher aus der Quarkerei.

Give Cheese a Chance
Frau Dr. Schneider’s Grilled Cheese Wonderland: Give Cheese a Chance

Da das leibliche Wohl auf diese Weise gesichert war, blieb umso mehr Zeit, sich in der Vielfalt des Angebots treiben zu lassen. Ich fabrizierte Sommerrollen mit Nina Sonntag vom Hamburger Herdgeflüster, begab mich auf Kräuter-, Wald- und Barfußwanderungen, lernte die Line sowie fünf verschiedene Moves beim Madison-Workshop, scheiterte beim Massenkaraoke kollektiv an „Bohemian Rhapsody“, besuchte Lesungen von Heinz Strunk und Stevan Paul und hörte unter anderem Bernd Begemann & die Befreiung, Die Sterne, Dan Croll, PJ Harvey, Pixies, Conor Oberst, Birdy, The Notwist, Franz Ferdinand, Rocko Schamoni, den Electric Swing Circus, Judith Holofernes, Element of Crime, die Stereo MC’s und Feist.

Chillaxed
Alles chillaxed an der Konzertbühne
Zeltraum
Zeltraum
An der Waldbühne
Blick auf die Waldbühne

Dabei lernte ich zum einen, dass ich weder Rocko Schamoni noch Heinz Strunk lustig finde, mir die Pixies zu anstrengend sind und ich mich für Franz Ferdinand immer noch nur mäßig begeistern kann. Auf der anderen Seite entdeckte ich zu meiner großen Freude, dass The Notwist tatsächlich auch live funktionieren (Und wie! Hammer!). Zu den Highlights zähle ich außerdem die Auftritte von Dan Croll, PJ Harvey, dem Electric Swing Circus, Judith HolofernesElement of Crime und vor allem Leslie Feist, die den perfekten Abschluss eines nahezu perfekten Festivals bildete.

Ein neuer Sommertag
Morgendämmerung über Luhmühlen

Sogar die Wettergötter hatten ein Einsehen: Bis auf leichte Niederschläge in der Nacht zum Donnerstag, ein paar stärkere Windböen am Freitag, einem Schäuerchen am Samstagnachmittag und einem kräftigen Platzregen am frühen Samstagabend war es tatsächlich Sommer. Vier Tage lang.

Nächstes Jahr sehr gerne wieder.

Theater, Theater: „Hotel Paradiso“ im Ernst Deutsch Theater

Es mag nicht allgemein bekannt sein, aber das Programm des Schleswig-Holstein Musik Festivals beschränkt sich keinesfalls nur auf klassische Musik. Meine diesjährige Auswahl spiegelt diese Tatsache nahezu perfekt wider:

  1. Kammermusikensemble trifft Mandolinist trifft präpariertes Klavier,
  2. Orchesterkonzert,
  3. Theater und
  4. (Minimal) Techno.

Gestern war das Theater dran: Familie Flöz lud ein ins „Hotel Paradiso“. Ich saß in der vorletzten Reihe des vollgepackten Ernst Deutsch Theaters und staunte darüber, dass ich da vor mir auf der Bühne ein Stück ganz ohne Worte und ohne Mienenspiel sah – alle Darsteller trugen Masken – und doch alles verstand. Allein mittels Bühnenbild, Requisiten und Toneinspielungen, aber vor allem durch den körperlichen Ausdruck der jeweils handelnden Personen.

So gut war das, dass ich erst zum Schlussapplaus begriff: Die insgesamt 16 Charaktere*) des Stückes wurden von nur vier Schauspielern verkörpert. Und hinter der Maske der alten Dame war gar keine. Also, eine Dame jetzt.

Einzig das Stück selbst war nicht ganz nach meinem Geschmack. „Nie war Familie Flöz böser und abgründiger“, heißt es in der Beschreibung, „ein Alpen-Traum voll von schwarzem Humor, stürmischen Gefühlen und einem Hauch Melancholie.“ Von mir aus hätte der Melancholieanteil gerne höher und der Humor dafür etwas weniger robust ausfallen dürfen.

Momentan ist Familie Flöz noch mit drei weiteren Produktionen unterwegs: „Haydi!“, „Teatro Delusio“ und „Infinita“. Die vier Aufführungen von „Teatro Delusio“ ab morgen bis zum 21. 7. im Kieler Schauspielhaus sind allerdings bereits restlos ausverkauft.


*) Die Seniorchefin, der Sohn, die Tochter, der Seniorchef;
der Koch, das Zimmermädchen, der rotlivrierte Bellboy;
der Dieb, der Kommissar, der Assistent;
der Hotelkritiker;
die aufgetakelte Frau, die Frau mit dem Fotoapparat,
der Jogger, der Erleuchtete, der Gast, der dann doch keiner wurde und ich habe bestimmt noch jemanden vergessen.

Vermischtes

Ich mache nicht so gerne Sammeleinträge ins Susammelsurium, aber es sind schon wieder drei Veranstaltungen aufgelaufen und es soll nicht in Stress ausarten. Ganz im Gegenteil. Ich bemühe daher ausnahmsweise den Schnelldurchlauf.

Montag

Frau F. und ich waren bei hidden shakespeare im Schmidt Theater! Endlich! Das wollten wir ja, seit wir „Heiligabend mit Hase“ und „Ein Endspiel“ im Abaton gesehen hatten. Es war grandios. Meine Lieblinge: das Lacrosse-Pony und der Galoppflamingo. Wobei ich ein wenig mit dem Publikum fremdelte. Das Prinzip des Verzehrtheaters – was für ein schönes Wort! – scheint doch die ein oder andere Spezies anzulocken, die man in die Kategorie Mädelsabend, Junggesell(-inn-)enabschied oder Betriebsausflug stecken kann. Nicht unbedingt die Atmosphäre, in der ich mich zu Hause fühle. Andererseits war ich ja tatsächlich mal selbst im Rahmen eines Betriebsausflugs, also, das ist Jahre her, bei „Cavemusic“ im Schmidts Tivoli, und da hat es mich gar nicht gestört. Was meiner Erinnerung nach ganz wesentlich mit dem Auftritt Christian von Richthofens zu tun hatte. Für solche Menschen wurde der Begriff „musikalisch“ erfunden. Was für eine Rampensau! Er stahl dem Caveman die Show, nach allen Regeln der Kunst, und man konnte ihm nicht böse sein. Jedenfalls nicht aus der Publikumsperspektive – Kristian Bader mag seinerzeit anders darüber gedacht haben.

Bei Bodo Wartkes „König Ödipus“ vor fast genau acht Jahren war wiederum deutlich mehr Theater spürbar, trotz des Kabarettansatzes. Zwei Gegenstände in meiner Wohnung erinnern mich seither an diesen Abend: das gelbe Reclamheftchen im Buchregal und Carl der Löwe alias die Sphinx („Wie ‚Pfingsten‘ nur mit ‚S‘!“) auf dem Kleiderschrank. Bodo Wartke wird mit gemischten Gefühlen an diese Premiere zurückdenken, er brach sich nämlich während der Vorstellung das rechte Wadenbein.

Wie komme ich jetzt darauf? Ach ja: Theater.

Mittwoch

Nächste Station: „Unwiderstehlich“ im Ernst Deutsch Theater. Im Vergleich zum Montag war das naturgemäß ein komplett anderer Film. Frau F. und ich hatten beide Schwierigkeiten mit dem Stück, wobei mir nicht ganz klar war, ob es am Text selbst oder an der Regie lag oder vielleicht an der Kombination von beidem. Das hat uns aber keineswegs daran gehindert, die schauspielerische Leistung von Anika Maurer und Boris Aljinovic anzuerkennen.

Die Vorstellung war in zwei Teile gegliedert, unterbrochen durch eine Pause. Mir persönlich hat der dritte Teil am allerbesten gefallen. Ich habe mich lange nicht mehr so gründlich und so nett verquatscht. Ganz lieben Dank auch dafür.

Donnerstag

Ein klein wenig Theater gab es auch bei Lambert im resonanzraum und sei es nur des Maskenspiels wegen. Anders als vor anderthalb Jahren auf Kampnagel waren dieses Mal keine Bläser dabei (die Gitarre war OK, hätte aber nicht sein müssen). Dadurch wirkte das Programm ernster, was sich auch in den tendenziell weniger spaßigen Ansagen widerspiegelte. Ich mochte auch diese Variante sehr. Schade nur um das Bundesamt für Notenschutz, das offenbar inzwischen aufgelöst wurde.

Ich hatte mich bewusst so platziert, dass ich Lambert etwas von der Seite sehen konnte. Dadurch saß ich direkt vor dem Schlagzeuger und Perkussionisten, dem ich im Laufe des Konzerts mehr und mehr verfiel. Da bildet sich allmählich ein Muster heraus; man kann durchaus Parallelen zu meiner Faszination für Andrea Belfi (bei Nonkeen) und Fabian Prynn (bei Douglas Dare) ziehen.

Ich behalte das im Auge. Bzw. im Ohr.

„Die Frau ohne Schatten“ in der Staatsoper Hamburg

Da sind nun also Kaiserin und Färberin, die eine kann keine Kinder bekommen, die andere will nicht. Während die Kaiserin per Weissagung emotional erpresst („Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muss versteinern!“) und von ihrer Amme zu drastischen Maßnahmen gedrängt wird, erliegt die Färberin den ihr angebotenen Verlockungen im Austausch gegen Schatten und Fruchtbarkeit – wenn auch nicht bis zum Äußersten. Das Gewissen und der Zwiespalt funken ihr dazwischen.

Nichtsdestotrotz provoziert sie den Gatten unermüdlich weiter, bis diesem endlich schwant, dass die ihm Angetraute es ernst meint mit ihrer Rede. Worauf ihm der Kragen platzt. Und zack! ist sie auch schon eingeknickt:

Dienend, liebend dir mich bücken:
dich zu sehen!
Atmen, leben!
Kinder, Guter, dir zu geben!

Am Ende finden sich beide Frauen, durch unterschiedliche Prüfungen zur Mutterschaft bekehrt, selig lächelnd in den Armen ihrer Männer liegend wieder.

Wenn das Herz aus Kristall
zerbricht in einem Schrei,
die Ungebornen eilen
wie Sternenglanz herbei.
Die Gattin blickt zum Gatten,
ihr fällt ein irdischer Schatten
von Hüfte, Haupt und Haar.

Ernsthaft, Herr von Hoffmannsthal?

Nun gut, die Oper entstand zwischen 1911 und 1915 und wurde 1919 uraufgeführt. Da war das tradierte Rollenbild der Frau zwar schon im Umbruch, aber noch die Regel, und einer Ehe entsprangen im Durchschnitt vier Kinder. Außerdem, so lernten wir in der Einführung, gab es offenbar ein häusliches Vorbild für den Färber Barak und sein widerspenstiges, gebährunwilliges Weib: die Ehe Richard Strauss‘ mit der Sopranistin Pauline de Ahna. Da kommt „Die Frau ohne Schatten“ gewissermaßen wie eine maskuline Bewältigungsstrategie des Künstlerduos von Hoffmannsthal/Strauss daher.

Andreas Kriegenburgs Inszenierung versucht einen anderen Ansatz, den sperrigen Stoff ins jetzt und hier zu retten: Die gesamte Handlung zwischen Märchen- und Menschenwelt mitsamt dem zugehörigen Hokuspokus wird als (Fieber-)Traum der Färberin dargestellt. Das gelingt auch weitgehend, bis auf das süßlich-kitschige Finale mit Blumen, Erdbeeren und spielenden, in bunte T-Shirts gewandeten Kindermassen.

Wenig hilfreich dabei ist, dass die Schlussszene per se schon sehr in die Länge gezogen wirkt und auch musikalisch nicht eben den Höhepunkt des Spektakels bildet. Wobei mir der überwiegende Rest ausnehmend gut gefallen hat. Was Strauss sich da ausgedacht hat, ist zwar mehrheitlich cineastisch-bombastisch und zieht alle Register. Aber es bleibt eben auch Raum für zarte und lyrische Passagen. Ganz großes Kino. Richard Strauss möge mir bitte nachsehen, dass ich ihn kompositorisch bisher immer mit dem „Rosenkavalier“ gleichgesetzt hatte. Passiert mir nicht wieder.

Und die Besetzung? Damit ich nicht wieder einem Opernsänger auf die Füße trete, weil ich ihn einen Opernsänger nenne, verzichte ich dieses Mal auf Einzelbewertungen. Man schlage dazu bei oper aktuell und im Hamburger Abendblatt nach, das stimmt ungefähr so.

Der wahre Star des Abends war eh das schier sensationelle Bühnenbild von Harald B. Thor – sagte ich schon „ganz großes Kino“? Passt.

Theater, Theater: „4.000 Tage“ im St. Pauli Theater

Boris Aljinovic ist Hochseesegler, ein im Wortsinne ausgezeichneter sogar. Insofern nicht verwunderlich, dass sich unsere Wege bereits kreuzten. Allerdings nur in meinem beruflichen Umfeld. Abgesehen von diversen Hörbucheinspielungen und Fernsehrollen hatte ich ihn bei seiner Arbeit bislang noch nicht erlebt, dabei ist er regelmäßig auf Hamburgs Bühnen zu sehen. Höchste Zeit also, das nachzuholen. Und überhaupt, wie lange ist es her, dass ich im St. Pauli Theater zuletzt ein Theaterstück sah? Lustiges Volk da übrigens (Spontangedanke: „Ach, hier treiben die sich alle herum.“). Unter anderem sah ich Dagmar Berghoff und lokale Politprominenz.

Zum Stück.

In „4.000 Tage“, geschrieben von Peter Quilter und im Januar 2016 am Londoner Park Theatre uraufgeführt, erwacht Michael (Boris Aljinovic) nach drei Wochen im Koma mit einer Gedächtnislücke von elf Jahren. Das entspricht 4.000 Tagen und exakt dem Zeitraum, in dem er mit seinem Partner Paul (Gustav Peter Wöhler) zusammengelebt hat. Der kämpft nun darum, dass Michael sein Erinnerungsvermögen wiedererlangt, während seine Mutter Carol (Judy Winter) das Ereignis als eine ihr äußerst willkommene Gelegenheit zum Neustart begreift – vorzugsweise in eine Zukunft Michaels ohne Paul an dessen Seite.

Angesichts dieser Ausgangslage hatte ich eine Tragikomödie erwartet. Dafür war das Stück aber dann doch zu ernst. Ob das eventuell auch an der deutschen Fassung lag, deren Erstaufführung da heute Abend stattgefunden hat? Schwer zu sagen. Dafür müsste man das Stück im Original kennen.

Wie dem auch sei, der Kampf zwischen Michaels Mutter und seinem Partner Paul wird in dem Moment zur Nebensache, als Michael aus dem Koma erwacht. Besonders im ersten Teil agierte Judy Winter eine Spur zu exaltiert, während Gustav Peter Wöhler seltsam blass blieb. Was meines Erachtens nicht allein darauf zurückzuführen ist, dass sie die überdominante Mutter und er eine Spießerfigur spielt. Boris Aljinovic hingegen ist nicht nur ein ausgezeichneter Hochseesegler. Ich bin hin und weg und obendrein ziemlich sicher, heute Abend einen der zauberhaftesten Theaterküsse des Jahres gesehen zu haben.

Meine Begleitung murmelte etwas von „… auch am Ernst Deutsch Theater, ab nächsten Monat…“. Das Stück trägt den Titel „Unwiderstehlich“.

Count me in.

Theater, Theater: „Just call me God“ in der Elbphilharmonie

Wenn ich mich recht erinnere, lief bereits zur Spielzeit 2009/10 ein Konzertprogramm in Hamburg, welches unter dem Stichwort „Elbphilharmonie“ vermarktet wurde. Teil dieses Programms waren zwei Aufführungen des Stücks „The Infernal Comedy“, eine grandiose One-Man-Show von, für und mit John Malkovich. Aus sattsam bekannten Gründen fanden diese seinerzeit nicht in der Elbphilharmonie, sondern im Schauspielhaus statt.

Nicht weniger als eine weitere solche One-Man-Show erwartete ich knapp sieben Jahre später von „Just call me God“, der mittlerweile dritten Produktion des Trios Malkovich/Sturminger/Haselböck, und zumindest diese Erwartung wurde voll erfüllt.

Das Drumherum hingegen, naja. Das Stück selbst: schwach. Das Gefälle zwischen Malkovich und seinen Mitstreitern auf der Bühne: gigantisch. Ein paar Leute spielten Soldaten, Sophie von Kessel spielte eine Journalistin, John Malkovich war der Diktator; so deutlich konnte man tatsächlich unterscheiden.

Enttäuscht war ich aber vor allem vom Einsatz der Elbphilharmonieorgel, auf die ich mich besonders gefreut hatte. Bachs „Toccata und Fuge d-Moll“ (BWV 565) und Procul Harums „A Whiter Shade of Pale“, das ist so ungefähr das, was Lieschen Müller zum Thema Orgel jenseits des üblichen Sakralprogramms einfällt. Dazu Wagners Walkürenritt als musikalischer Holzhammer („Faschismus! Totalitarismus!“), noch ein wenig Bach, unter anderem ein Stück mit dem allzu passenden Titel „Alle Menschen müssen sterben“, ein Medley aus Nationalhymnen (aber nur die bekannten), ein wenig Improvisation hier und da, fertig. Irgendwann übernahmen dann die komplett verzichtbaren Elektronikeffekte das Zepter. Mal ehrlich: Wenn eine ausgewachsene Orgel in einem solchen Raum in Kombination mit John Malkovichs Spiel nicht ausreicht, um das gewünschte diabolische Gesamtbild zu erzeugen, dann stimmt etwas ganz Grundsätzliches nicht.

Ich hoffe, es wird mir bei Gelegenheit gelingen, ein Ticket für ein reines Orgelkonzert im Großen Saal zu erbeuten. Was ich da heute in „Just call me God“ gehört habe, kann’s jedenfalls noch nicht gewesen sein.

„Lulu“ in der Staatsoper Hamburg

Ich hatte an dieser Stelle bereits mehrfach über Social Media-Abende von Museen berichtet. Auch die Staatsoper Hamburg lud kürzlich zum TweetUp, einer Veranstaltung, für die ich mich sehr gern beworben hätte. Da diese aber im Rahmen der Hauptprobe zur Neuinszenierung der Oper „Lulu“ durch Christoph Marthaler stattfand, handelte es sich um einen Termin unter der Woche nachmittags. Das ist mit meinen Arbeitszeiten nur schwer vereinbar.

Ich verfolgte den Hashtag #LuluHH daher zunächst nur aus den Augenwinkeln und war hin- und hergerissen. Einerseits hatte ich nach dem Spontanbesuch von Calixto Bieitos „Otello“ große Lust, mir eine weitere Opern(-neu-)inszenierung anzuschauen. Andererseits ging es da um Alban Berg. Während der Schulzeit hatte ich dessen ersten Oper „Wozzeck“ gesehen, als Begleitung zum Musikunterricht, und obwohl es mir seinerzeit einigermaßen gelang, mich in die Zwölftonmusik einzuarbeiten, erinnerte ich die Angelegenheit doch als reichlich anstrengend. Ohne gründliche Vorbereitung, das war mir bewußt, würde mir der Besuch einer „Lulu“-Vorstellung wenig Freude bereiten. Das gilt nicht nur für den musikalischen Teil. Alban Berg hat Lulus Geschichte aus zwei Stücken des Schriftstellers und Dramatikers Frank Wedekind zusammengebaut. Beim ersten Überfliegen der Zusammenfassung dachte ich: „Was für eine schreckliche, ja, hanebüchene Story. Überhaupt gar nicht mein Fall. Als Roman oder Film würde ich mir das nicht geben.“

Es kam die Premiere und mit ihr die ersten Kritiken. Ich sah Fotos des Bühnenbilds, las über die außerordentliche Leistung Barbara Hannigans in der Rolle der „Lulu“ und erfuhr die Auflösung des Rätsels um die Soloviolinistin auf der Besetzungsliste. Schließlich siegte die Neugier. Ich beschäftigte mich mit der Geschichte des Werks, studierte verschiedene Inhaltszusammenfassungen und kaufte ein 19 Euro-Ticket für die Dernière.

Der Abend begann einigermaßen kurios. Neben mir im zweiten Rang rechts, Loge 4, saß ein enthusiastischer Wiederholungstäter, der alle Umsitzenden vorwarnte: Nach dem ersten Akt sollten wir bitte noch nicht gehen, es würde besser. Dritter Akt und Epilog lohnten sich besonders. Der Mann sollte recht behalten.

Mit dem ersten Akt fremdelte ich nicht nur, weil es geraume Zeit dauerte, bis ich mich eingehört hatte. Ich saß in der Loge ganz rechts und hatte daher leider die vordere linke Ecke von Loge 3 im Blickfeld. Dummerweise passiert gerade im 1. Akt ziemlich viel auf der rechten Bühnenseite, was mir einige Verrenkungen abverlangte. Dann irritierten mich ein weiteres Mal die Diskrepanzen zwischen Libretto und Bühnengeschehen. Wo die Dialoge größte emotionale Turbulenz beschreiben, wirken die handelnden Personen seltsam teilnahmslos und erstarrt. „Hände weg!“, singt Lulu an einer Stelle, „Hab ich dich!“ antwortet der Maler, aber beide sitzen in der zwar langsamen, aber in Teilen durchaus aktionsfreudigen Inszenierung in beinahe maximal möglicher Distanz voneinander auf der Bühne und singen ihren Text mit ins Publikum gerichteten Gesichtern. Überhaupt, der Maler: Alle anderen Darsteller spielten in erster Linie Theater. Einzig Peter Lodahl als Maler blieb Opernsänger, in Gestus und Habitus. Es fiel zwar nur im Vergleich auf, dafür aber deutlich.

Zum zweiten Akt ändert sich das Bühnenbild: Es wird geschlossener, was mir sehr viel besser gefiel. Die Ohren hatten sich einigermaßen auf Zwölfton eingestellt und die Vorbereitung zahlte sich aus, da ich alle Figuren der Handlung zuzuordnen vermochte. So konnte ich mich auf die schauspielerischen und sängerischen Leistungen konzentrieren, wobei mir insbesondere Jochen Schmeckenbecher (Dr. Schön) und Barbara Hannigan imponierten. Eine leichtfüßigere und akrobatischere Lulu hat es wahrscheinlich noch nicht gegeben. Das Publikum reagierte amüsiert auf einzelne Textstellen, die Inszenierung kippte aber niemals ins Klamaukhafte. Und dann war da noch Anne Sofie von Otter: Als schwarzgekleidete Gräfin von Geschwitz blieb sie trotz dieser vermeintlichen Unscheinbarkeit unübersehbar. Ein Paradebeispiel für Bühnenpräsenz, die ohne große Gestik auskommt.

Alban Berg hat seine zweite Oper nicht vollenden können. Vom 3. Akt schaffte er noch 268 Takte, die übrigen 1.058 liegen lediglich als Particell mit vereinzelten Hinweisen zur Orchestrierung vor. Bis zum Tod der Witwe Bergs, die eine Vollendung durch dritte Hand verhinderte, wurde die Oper als Fragment aufgeführt. Seit der nachträglichen Instrumentierung durch Friedrich Cerha, uraufgeführt 1979, wird bevorzugt diese Version verwendet. Christoph Marthaler und Kent Nagano gehen einen dritten Weg. Zum dritten Akt räumt das Orchester den Graben, zwei Klaviere und die Soloviolinistin Veronika Eberle übernehmen. Eberle und eines der beiden Klaviere samt Spieler(in) werden dabei als Bühnenfiguren Teil der Inszenierung. Die musikalische Sparsamkeit erlaubt eine noch größere Konzentration auf Handlung, Inszenierung und Gesang und ich gebe zu, mir hat das Orchester an dieser Stelle nicht gefehlt.

Am Ende flieht Lulu nach London, prostituiert sich und wird zusammen mit der Gräfin von Geschwitz von niemand Geringerem als Jack the Ripper ermordet. Anne Sofie von Otter wird ausgeblendet, Barbara Hannigan bleibt mit Veronika Eberle auf der Bühne zurück; die Orchestermusiker waren zuvor nach der zweiten Pause auf ihre Plätze zurückgekehrt. Als Epilog wird nun Alban Bergs Violinkonzert „Dem Andenken eines Engels“ gegeben, eben jenes Werk, für dessen Erstellung er die Arbeit an seiner unvollendet gebliebenen „Lulu“ unterbrach. Es gab Stimmen, die das überflüssig und unverständlich nannten. Unabhängig davon, ob man ein solches Vorgehen für sinnvoll hält oder nicht: Es war musikalisch großartig ausgeführt. Nicht ohne Grund ernteten Veronika Eberle und Kent Nagano nach Barbara Hannigan die lautesten „Bravo!“-Rufe.

Weder Story noch Inszenierung, auch nicht die Musik für sich genommen, sondern die Aufführungsstrategie war, was mich an der neuen Hamburger „Lulu“ am meisten fasziniert hat. Um musikalisch weiter einzutauchen, hätte es allerdings einer noch gründlicheren Vorbereitung bedurft. Vielleicht beim nächsten Mal. Ich bin ja jetzt wieder dran.

Ein abschließendes Wort noch an die Staatsoper Hamburg: TweetUps wirken! Ich bin der lebende Beweis. Gut gemacht! Das Blog übrigens auch.

„Otello“ in der Staatsoper Hamburg

In der Staatsoper Hamburg war ich nun schon ein paar Mal, aber erst als ich im vergangenen Herbst die Liveübertragung der Spielzeiteröffnung 2016/17 am Jungfernstieg sah, fiel mir auf, dass ich dort zwar Ballettvorführungen und Konzerte, aber noch nie eine Oper besucht hatte. In über 11 Jahren in Hamburg nicht. Höchste Zeit, das nachzuholen.

Warum es nun ausgerechnet der „Otello“ wurde, tja. Mag sein, dass die mannshohe Plakatierung im U-Bahn-Durchgang zwischen Rathausmarkt und Jungfernstieg eine Rolle spielte (Print wirkt!). Kann aber auch am Datum gelegen haben.

Wie dem auch sei, ich fand kurzfristig noch einen freien Platz mit halbwegs brauchbarem Blick auf das Bühnengeschehen für äußerst erschwingliche 12 Euro, konsultierte den zuvor entstaubten Opernführer und informierte mich grob über die Inszenierung: zeitgenössisch offenbar, von Buhrufen aus dem Publikum war zu lesen; das versprach Kontroverse.

Ob es in Calixto Bieitos Sinne war, dass sich in meinem Kopf angesichts der italienisch singenden Anzugträger auf der Bühne schon ab der ersten Szene Mafia-Assoziationen festsetzten – ich bin mir da nicht ganz sicher.

Die vorgetragene Version der Geschichte um Intrigen, Eifersucht, Gewalt und Mord erinnerte mich jedenfalls an die klassischen Macho-Machtspiel-Szenarien innerhalb eines Clans. In einer Hafenstadt, des das Bühnenbild beherrschenden orangefarbenen Krans wegen, sei es nun auf Zypern, wie das Libretto es vorgibt, oder sonst irgendwo auf der Welt. Ein testosterongesteuertes Wetteifern, in dem Frauen nur als devote Opfer und Status- bzw. Sexobjekte vorkommen. Selbst die Liebesszenen atmen in dieser Inszenierung Unterdrückung und Missbrauch und das ist soweit stimmig.

Was nicht ganz passte, war der Chor. Ein Heer von abgerissenen, schicksalsergebenen und sich um die Champagnerspritzereien der Herrschenden balgender Gestalten, die Textstellen wie

Mentre all’aura vola,
vola lieta la canzon,
l’agile mandòla
ne accompagna il suon.

Zur Mandola klingen
Soll der Freude Lied,
Das auf leichten Schwingen
Durch die Lüfte zieht.

singen, während Desdemona mit einem Blumenstrauß im Arm sich unter ihnen bewegt – das lässt sich meines Erachtens höchstens mittels Ironie in Einklang bringen.

Vermutlich habe ich also auch hier wieder nicht in Gänze begriffen, was der Regisseur dem Publikum mit seiner Inszenierung sagen wollte. Es hat mir trotzdem sehr gut gefallen.

Die musikalischen Gewinner des Abends waren Claudio Sgura als Jago und Svetlana Aksenova als Desdemona – großartig. Und überhaupt, Verdi! Nicht kaputtzukriegen. Schlimmstenfalls hätte das auch mit geschlossenen Augen noch funktioniert.

Apropos, ich merke mir fürs Ohr: Die Staatsoper-Akustik funktioniert sehr gut auch in der Holzklasse auf den günstigen Plätzen (und ist gnadenlos zu klappernden Streichern).

Den dramatischen Abend mit einem doppelten Grappa ausklingen zu lassen, erschien mir im Anschluss nur recht und billig. Wobei das wiederum ganz bestimmt auch dem Datum geschuldet war. Und der anderen Oper da, jenseits des großen Teichs.

Salute.