Reeperbahn Festival 2023

Eigentlich mag ich das Reeperbahn Festival nicht so sehr. Wenn aber eine Freundin spontan fragt, ob ich Lust habe, sie zu begleiten und mir die Decke eh gerade auf den Kopf fällt, schert mich mein Geschwätz von gestern wenig.

Verabredet waren wir auf dem Spielbudenplatz, auf dem zu diesem Zeitpunkt gerade Sam Himself auftrat.

Das war jetzt nicht außergewöhnlich, aber solide. Und eine Stimme hat der junge Mann, hmmmmmm! Die Zugabe war „Dancing in the dark“ von Bruce Springsteen. Sehr schöne Version. Genehmigt.

Unsere erste „richtige“ Station war die Prinzenbar. Dort starteten wir mit Das Weeth Experience und Carsten Brosda.

Eine „psychedelische Kulturtheorielesung“ nennen die Menschen von Michelle Records das, was es mittlerweile auch in „Willy-Brandt-rotem Vinyl“ unter dem Titel „Nichts Kommt Von Selbst Und Wenig Ist Von Dauer“ zu kaufen gibt: Carsten Brosda las aus seinem Buch „Mehr Zuversicht wagen“ und die Band improvisierte live dazu. Timing und Rhythmus, Text und Musik, das passte richtig gut. Falls es doch noch jemand nicht mitbekommen haben sollte – und solche Menschen soll es ja geben, sogar in Hamburg -: Carsten Brosda ist zurzeit der hiesige Kultursenator. In Hamburg macht der Kultursenator noch selbst Kultur! Leider verlor die Kombi während des Auftritts nicht wenige Zuschauer. Das ist die Krux mit so einem Festival: Immer ist irgendwo auch woanders noch etwas, vielleicht besseres, vielleicht einzigartiges und die beliebten Dinge füllen sich schnell, da darf man nicht zu spät reagieren. FOMO deluxe. Nicht gerade förderlich für die Konzentration auf das hier und jetzt.

Wir blieben jedenfalls bis zum Schluss und auch noch bis zum Ende des Konzerts von Dottie Anderson.

Das hat mich nicht vom Hocker gerissen, war aber ok. Auffällig, wie kurz die meisten Stücke waren. Das waren vielfach keine Songs, höchstens Songideen. Einer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne geschuldet? Streaming-Vorgabe? Früher gab es den Begriff des „Radio Edit“. Gibt es möglicherweise immer noch, heißt wahrscheinlich nur mittlerweile anders.

Einer Erwähnung bedarf noch das Zwischenspiel: Ein eigentlich nettes Gespräch mit einem der Security-Menschen driftete in trübe Gewässer ab, Stichwort Corona-Maßnahmen. Dabei hatte sich das mit der Schwurbelzone in Docks und Co. doch eigentlich erledigt? Dachte ich jedenfalls.

Unsere zweite Station war die St. Pauli Kirche. Dort hörten wir Lucy Clearwater.

Das passte zwar atmosphärisch ganz wunderbar zum Raum, wurde nur auf Dauer recht eintönig. Bemerkenswert: Lucy Clearwater hat auch Songs in deutscher Sprache geschrieben. Deren „Deutsch als Fremdsprache“-Charakter kann man zwar nicht abstreiten, gefallen haben sie mir aber trotzdem. Oder vielleicht auch gerade deswegen.

Zum Abschluss gingen wir ins Indra zu Kids Return.

Sound und Outfit der Band kann man nur als retro bezeichnen, mit einem Schuss Oasis im Gesang, was hervorragend harmonierte. Dermaßen retro war das, da haben wir mehrfach überprüfen müssen: Ist das jetzt Ironie oder meinen die Jungs das ernst? Offenbar Letzteres. Und die waren richtig gut!

Jedenfalls, so stelle ich mir das Reeperbahn Festival im Bestfall vor: Man stromert von Bühne zu Bühne, entdeckt Sachen, findet einiges so lala, anderes gut und manches klasse und fällt am Ende um viele Eindrücke bereichert (und eventuell auch ein klein wenig bier- oder weinselig) in die Koje. Ihr seht mich bekehrt.

Dummerweise kollidiert das Event nächstes Jahr mit einem spielentscheidenden Abgabetermin. Das finde ich jetzt schon schade.

Drei Abende in der Elbphilharmonie

Ich habe drei Abende in der Elbphilharmonie und einen auf dem Reeperbahn Festival nachzutragen. Ich fange mit der Elbphilharmonie an.

Da hatte die Neugier gesiegt und mich zum Kauf eines Tickets für die „Harbour Front Sounds“-Veranstaltung zu Manfred Krug und seinen Tagebüchern im Kleinen Saal bewogen. Dort saßen Manfred Krugs zweitjüngste Tochter Fanny als lesend und singend Vortragende und Krista Maria Schädlich als langjährige Freundin Krugs und Herausgeberin der Tagebücher zusammen mit Olli Schulz, dem die Moderatorenaufgabe zugedacht war. Dankenswerterweise gelang es den Damen problemlos, sich gegenüber Herrn Schulz zu behaupten. Der schien leider immer wieder zu vergessen, dass er nicht die Hauptperson des Abends und als Alleinunterhalter geladen war. Ließ sich gar noch zu einem mehr als peinlichen „Zaubertrick“ hinreißen. Ich bin nicht sicher, ob ich das eher anstrengend oder eher unterhaltsam fand. Irgend etwas dazwischen vielleicht. Bedauerlicherweise war Frau Krug stimmlich etwas angeschlagen, nichtsdestotrotz mochte ich die Songs und ihre Art, diese und die Tagebuchauszüge vorzutragen, sehr. Das letzte Musikstück, eine deutschsprachige Fassung von „Baby, it’s cold outside“ im Duett mit ihrem Vater – die Technik macht’s möglich – hat mich richtiggehend angerührt. Und auch die wunderbare Klavierbegleitung durch Bene Aperdannier soll nicht unerwähnt bleiben.

Tatsächlich war die Veröffentlichung der Krug’schen Tagebücher komplett an mir vorbeigegangen. Durch die vorgetragenen Ausschnitte angefixt, lieh ich mir die beiden bisher erschienenen Bände aus der örtlichen Bücherhalle. Der erste Teil enttäuschte mich schnell: Manfred Krug präsentiert sich darin selbstverliebt, grumpy und vor allem sehr überzeugt davon, wie schlecht andere in ihren Jobs sind (vor allem: Regisseure und -innen, Drehbuchautor:innen, andere Schauspieler:innen, aber auch Werbetreibende und Handwerker:innen). Schauspielerinnen werden auf ihre „Tittchen“ reduziert und die Art und Weise, wie selbstverständlich dieser (alte, weiße) Mann davon ausgeht, dass Ehefrau und Geliebte ihm – am besten noch in trauter Eintracht – die Koexistenz beider Lebens- und Liebesformen gestatten, triggert mich aus sehr persönlichen Gründen außerordentlich. In den Einträgen nach dem Schlaganfall Krugs im Juni 1997 ändert sich der Ton allerdings merklich und die zeitgeschichtliche Komponente bleibt faszinierend. Als Jahrgang 1973 stöbere ich da nicht zuletzt in meiner eigenen Vergangenheit. Ich werde also wohl noch den zweiten Band lesen und zudem irgendwann auch die Lektüre von „Abgehauen“ nachholen. Zuerst freue mich aber auf Alan Rickmans „Madly, Deeply“. Ich bin mir sicher: An dessen Tagebuchaufzeichnungen werde ich weitaus größeres Vergnügen haben.

Die übrigen Veranstaltungen des diesjährigen Harbour Front Literaturfestivals, die mich interessiert hätten, fanden übrigens dummerweise allesamt in der Woche statt, in der ich studiumsbedingt in Berlin weilte, darunter die Aufzeichnung einer weiteren Folge des NDR-Literaturpodcasts eat.READ.sleep und eine Lesung mit „Mr. ESC“ Peter Urban. Das Festival läuft noch bis zum 28. Oktober 2023.

Das zweite nicht ganz ungetrübte Event war das Konzert von Elvis Costello und Steve Nieve. „Hunderte Fans verließen vorzeitig den Großen Saal“, schrieb am darauffolgenden Tag das Hamburger Abendblatt. Das ist zwar ein klein wenig übertrieben, aber der Besucherschwund war in der Tat nicht unbeträchtlich. Keine Ahnung, ob Mr. Costello sich nicht gut genug gehört hat oder vielleicht generell nicht mehr so gut hört, aber in manche seiner Songs ist der Mann weder vom Tempo noch vom Ton her hineingekommen. Im Sinne von hart an bis jenseits der Schmerzgrenze. Man fragt sich auch, wie ein Mensch mit derart langjähriger Bühnenerfahrung dermaßen ungeschickt im Umgang mit den diversen Mikrofonen auf der Bühne sein kann. Jedenfalls, den teils unterirdischen Sound hatte keinesfalls allein die Technik zu verantworten. Es gab aber auch die Stücke, bei denen alles passte. Für diese Perlen und die Einlagen jenseits der elektronischen Verstärkung hatte sich der Kartenkauf gelohnt. Und nicht zuletzt für Steve Nieve am Flügel.

Auch der dritte Abend wurde von manchen als problematisch bezeichnet: beispielsweise von Joachim Mischke, dem langjährigen Kulturredakteur und Musikkritiker beim bereits erwähnten Abendblatt, in einem Posting auf Facebook unmittelbar vor Konzertbeginn. „Currentzis dirigiert – ausgerechnet – Schostakowitsch 13, ‚Babi Jar’… Ein Stück, das auch den Antisemitismus in der Sowjetunion kritisiert. An das Massaker in der Ukraine erinnert dort ein Denkmal, und das wurde im März 2022 durch russischen Raketenbeschuss beschädigt. Und Currentzis schweigt nach wie vor zu so vielen Fragen, die seine Haltung zu Putin und dessen Angriffskrieg betreffen“, schreibt Mischke dort. Einerseits nachvollziehbar. Andererseits, wenn ich mir manche der Programmentscheidungen (und -änderungen!) der jüngsten Vergangenheit anschaue, die Teodor Currentzis zweifelsohne federführend gestaltet hat, fällt es mir nicht allzu schwer, darin eine kriegsablehnende Haltung zu erkennen. Und vielleicht muss man dem Mann zugestehen, in einem Dilemma zu stecken, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Aber ich gebe zu, als bekennender Fan ist es mir nicht möglich, objektiv zu sein.

Wie dem auch sei, musikalisch enttäuschte der Auftritt nicht. Neben Currentzis und dem SWR Symphonieorchester standen der Estnische Nationale Männerchor, Bratschist Antoine Tamestit und Bassist Alexander Vinogradov auf der Bühne. Marko Nikodijevićs Violakonzert berührte und die Interpretation der Schostakowitsch-Sinfonie überwältigte mich erwartungsgemäß. Die anschließende „Nach(t)musik“, bestehend aus der Overtüre über hebräische Themen c-Moll op. 34 von Sergei Prokofjew, Béla Kovács‘ „Sholem-Alekhem, rov Feidman!“ und einem Klezmer-Tanz des rumänischen Komponisten Șerban Nichifor, lebte von der unbändigen Spielfreude der Beteiligten, darunter auch Solist Tamestit. Wie bedauerlich, dass es Currentzis‘ letzte Saison als Chefdirigent des SWR SO ist. Ein Gastspiel in dieser Kombination gibt es noch in der Elphi, am 12. Dezember 2023. Noch gibt es Karten.

Internationales Sommerfestival 2023 auf Kampnagel

Die diesjährige Ausbeute war eindeutig zu mager: Zu ganzen vier Veranstaltungen habe ich es während des Internationalen Sommerfestivals 2023 auf Kampnagel geschafft. Immerhin, drei davon verbuche ich als Highlights.

(La) Horde/Ballet national de Marseille: Age of Content

Das Eröffnungsstück  von (La)Horde und dem Ballet national de Marseille gehörte – für mich überraschenderweise – leider nicht dazu.

Zum einen verstand ich die Story nicht, zum anderen war das Werk schlicht gute 15 bis 20 Minuten zu lang. „Marry me in Bassiani“ hatte mir seinerzeit ganz gut gefallen, „Age of Content“ hat mich dagegen gar nicht überzeugt. Schade.

Walid Raad: Cotton Under My Feet – The Hamburg Chapter

Das war ein ziemlicher Ritt durch die Hamburger Kunsthalle, denn dort spann Walid Raad entlang von im Gebäude des historischen Gründungsbaus verstreuten Objekten aus Fiktion und Historie (s)eine Geschichte. Zunächst schienen es nur Fragmente zu sein, die da teils im atemberaubenden Tempo und in schnellen Wechseln vorgetragen wurden. Doch nach und nach verdichteten sich die Bruchstücke, einem Mosaik nicht unähnlich, zu einem großen, verwirrenden Ganzen – letztlich, so eine der Botschaften, hängt doch alles mit allem zusammen, wenn auch bisweilen auf recht absonderliche Art und Weise.

Das Tempo, zudem in englischer Sprache, mag nicht für jeden vor Ort ideal gewesen sein. Die allermeisten Gesichter – oder so kam es mir jedenfalls vor – spiegelten aber mein eigenes Empfinden wieder: aus anfänglicher Skepsis wuchs Faszination bis hin zur Begeisterung. „Cotton Under My Feet – The Hamburg Chapter“ ist übrigens noch bis einschließlich 12. November 2023 per Audioguide oder in weiteren weiteren Live-Terminen zu sehen, zu hören und zu erleben.

Nesterval: Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg

Unter Unterhaltung fällt „Die Namenlosen – Verfolgt in Hamburg“ nicht. In dem Stück, welches die Verfolgung Homosexueller während der Nazizeit in Hamburg  nachzeichnet, wird das Publikum nicht geschont. Man kann es Pech nennen oder auch Glück, dass ich von Anfang bis zum Ende durchgehend der unsympathischsten (und mutmaßlich auch mit weitem Abstand sadistischsten) Figur gefolgt bin. Auf diese Weise bekam ich das volle Programm geboten, inklusive einer drastischen Folterszene. Das war herausfordernd. Gelinde gesagt. Nicht umsonst wurde zu Beginn der Vorstellung auf die Möglichkeit verwiesen, sich jederzeit herausziehen zu können und ich habe nicht nur nach dieser einen Szene ernsthaft darüber nachdenken müssen. Dabei hatte ich nicht einmal alles gesehen. Theoretisch konnte man im ehemaligen Kakaospeicher Baakenhöft über 180 Szenen als Zuschauer in Begleitung und aus der Perspektive der Charaktere erleben. In drei Stunden Spielzeit schafft man davon aber nur einen Bruchteil. Aus meiner Sicht hat das mir schon aus „Sex & Drugs & Budd’n’brooks“ bekannte Format des begleiteten Szenenwechsels auch bei diesem schweren Thema gut funktioniert – vielleicht ein wenig zu gut, ich habe lange gebraucht, bis ich den Abend einigermaßen verarbeitet hatte. Anderen ging es anders, an einer Stelle fiel gar das Wort „Holocaust-Kitsch“. Zugegeben, das Schlussbild („Niemals vergessen“) war vielleicht ein klein wenig drüber, aber meinen Gesamteindruck konnte das nicht schmälern. Ich bleibe dabei: gerne jederzeit wieder Nesterval. Thema egal.

Graindelavoix: Rolling Stone

Das Konzert fand am letzten Festivaltag in Kooperation mit dem Elbphilharmonie Sommer im Großen Elphi-Saal statt.

Ein bisschen musste ich mich leider ärgern: Im ersten Teil des Konzerts wurde ein Film auf eine weiße Leinwand projiziert, die vermutlich nicht ganz zufällig einem Leintuch glich; geht es doch in der „Erdbebenmesse“ von Atoine Brumel um jenes Erdbeben, welches der vom Grab Jesu wegrollende Stein verursacht haben soll. Auch in dem gezeigten Dokumentarfilm von 1967 wurde diese Erzählung aufgegriffen. Allein, gesehen habe ich so gut wie nichts davon: Auf den Seitenplätzen hatte man die „Leinwand“ nämlich im Querschnitt vor der Nase. Das hätte ich gern vorher gewusst. Aber letztlich war ich wegen der Musik da, nicht wegen des Drumherums, und an dem musikalische Part gab es wenig zu kritisieren. Beeindruckend.

Zum Festival Avant-Garten kann ich mich nicht verhalten, ich war nämlich gar nicht dort (außer am Eröffnungstag). Das kommt davon, wenn man die Veranstaltungen in die gesamte Stadt verstreut! So schön, spannend und interessant das im Einzelfall ist: Das richtig echte Festival-Feeling kommt dadurch eindeutig zu kurz.

In Concert: „König Arthur“ in der Laeiszhalle

Wie außerordentlich ungünstig, dass das Schleswig Holstein Musik Festival ausgerechnet meine Lieblingsstadt London als diesjährigen Schwerpunkt auserkoren hat, war ich doch im Festivalzeitraum insgesamt drei Wochen unterwegs! Immerhin, zur konzertanten Aufführung von Henry Purcells „König Arthur“ in die Laeiszhalle habe ich es geschafft. Ganz sicher war ich mir allerdings nicht, ob mir das gefallen würde. Klar, Purcell ist ein Begriff, aber gleich eine ganze Barockoper? Nicht gerade mein Sondersammelgebiet, um es bibliothekarisch auszudrücken.

Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Die Performance des Gabrieli Consort unter der Leitung von Paul McCreesh zusammen mit Anna Dennis, Mhairi Lawson, Charlotte Shaw, Jeremy Budd, Matthew Long, Malachy Frame und Dingle Yandell gestern Abend war schlichtweg mitreißend. Dabei beschränkte sich die Aufführung auf die musikalischen Teile des Werks, der gesprochene Part wurde komplett ausgeblendet. Oper ohne Handlung also. Das hätte langatmig werden können, wurde aber durch die szenischen Darbietungen der Sänger:innen äußerst lebendig. Zu meiner Überraschung erkannte ich mit „What Power art thou, who from below…“ ein Stück, welches Sting einst unter dem Titel „Cold Song“ einem breiteren Publikum bekannt machte.

Der heimliche Höhepunkt im V. Akt: „Your hay it is Mow’d, and your Corn is Reap’d“, vorgetragen in bester englischer Manier, als Trinklied nämlich.

Danach ließ es sich beschwingt Richtung U-Bahn schwanken. Ich bin ja immer noch ein klein wenig landkrank. Obwohl wir nur an zwei von sieben Tagen Welle hatten!

Vermischtes oder Drei Konzerte im Sommer

Ich zäume das Pferd der Einfachheit halber von hinten auf und starte mit der Nachbetrachtung des Auftritts von Kai Schumacher im Kleinen Saal der Elbphilharmonie.

Mir ist im Nachhinein sehr unerklärlich, warum mir der Name Kai Schumacher bis vor kurzem unbekannt war. Wo ist der Spotify-Algorithmus, wenn man ihn mal braucht?! Hier jedenfalls ein Totalausfall. So war es ein guter alter Newsletter, nämlich der von KD Palme, der mich auf Konzert und Künstler aufmerksam machte. Zeit, um mich vorher einzuhören, hatte ich allerdings nicht. „Aha, Tristano-kompatibel!“, schoss mir somit erst beim ersten Stück des Abends in den Kopf. Wenig später erfuhr das Publikum, dass „Tranceformer“, Schumachers just an jenem Tage erschienene Single-Auskopplung – sagt man das eigentlich noch so? – aus dem für Ende September angekündigten, gleichnamigen Album, ein Stück für zwei Klaviere ist (und deshalb nicht auf der Setlist stand). Und für das Album eingespielt wurde das Stück – mit? Richtig: Francesco Tristano.

Jedenfalls, das war gut. Gerne mehr! Nur schade, dass es nicht ausverkauft war.

Dieses Problem hatten Sigor Rós zuvor definitiv nicht. Ich habe lange nicht mehr so viele „Suche Karten“-Schilder vor dem Eingang gesehen wie bei dem gemeinsamen Auftritt mit dem London Contemporary Orchestra im Großen Elphi-Saal Mitte Juni. Völlig zu recht, das war eine Meisterperformance. Mit umwerfendem Sound. Wer Fan ist und das verpasst haben sollte, darf sich ärgern! Obwohl ich zugeben muss, dass die Veranstaltung ihre Längen hatte. Einige Stücke könnte man auch gut und gerne nahtlos aneinander reihen. Ein Klangteppich deluxe zwar, aber einer, der nicht nur bei mir zwischenzeitlich zu leichten Ermüdungserscheinungen führte.

Auf der anderen Seite kann ich mir nun gar nicht mehr vorstellen, wie man diese Musik überhaupt ohne Orchester aufführen kann.

Noch davor entpuppte sich das letzte „Blind Date“ der Saison 2022/23 als walisisch-irische Connection, bestehend aus Catrin Finch (Harfe) und Aoife Ní Bhriain (Violine und Hardanger Fiddle).

Das hat mir richtig gut gefallen. Es gibt eben einfach keine schlechten „Blind Date“-Konzerte. Punktum. Die nächsten Termine sind im Oktober, Dezember, Februar und Mai. Noch gibt es Karten!

Ups and Downs

Ich war wandern und das war nötig.

Neblig
Neblig
Selsley Common
Selsley Common
Jubilee Trees
Jubilee Trees
Dyram Park
Dyram Park
Weston voraus
Weston voraus
The Circle
The Circle
Sally Lunn's
Sally Lunn’s

Dann war ich bei den Hundreds auf Kampnagel und das war wunderschön.

Heute war ich in der Elbphilharmonie und habe die „ARCHE“ von Jörg Widmann nachgeholt, aufgeführt von Kent Nagano, den Philharmonikern, Iveta Apkalna an der Orgel, drei Chören und diversen Solisten. Das war eher ermüdend. Die „ARCHE“ wirkt wie eine Collage, hat von allem etwas und dabei von allem zu viel.

Symbolisch auch für den sonstigen Verlauf der letzten Wochen und Monate. Es ist alles ein wenig anstrengend.

In Concert: Martin Kohlstedt auf Kampnagel

Martin Kohlstedt auf Kampnagel – das wurde auch Zeit! Ich hatte schon befürchtet, dass es nicht mehr dazu kommt. Ist doch die Reihenfolge normalerweise eine andere: erst Kampnagel, dann Elbphilharmonie. Einen Auftritt in der Elbphilharmonie gab es schon, beinahe sechs Jahre ist das inzwischen her. Umso größer meine Freude über die Konzertankündigung, wenn sich auch die Wartezeit aufgrund der Verschiebung des Konzerts von März 2022 auf April 2023 reichlich lang zog.

Ich hatte mir gleich zu Anfang des Vorverkaufs einen Platz in der ersten Reihe gesichert. Das vermeide ich ansonsten einigermaßen konsequent, zumal die ersten Reihen nicht zwingend das beste Konzerterlebnis bieten. Beispielsweise in der Laeiszhalle; aufgrund der erhöhten Bühne ist die Nackenstarre dort quasi vorprogrammiert. Aber, wie heißt es so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel. Kampnagel ist ein sicherer Ort für mich und damit auch einer für Experimente.

Und so konnte ich Martin Kohlstedt aus nächster Nähe „beim Üben zuschauen“ (O-Ton). Mich beeindruckt diese Risikobereitschaft immer wieder neu: nur mit einem Armvoll musikalischer „Argumente“ vor das Publikum zu treten und sich von Tagesform und Resonanz des Raums leiten zu lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste abzuheben und damit auch mal eine weniger elegante Landung zu riskieren. Gar abzubrechen, wenn es nicht funktioniert.

Ich gestehe, mir standen da zwei bis drei Geräte zu viel auf der Bühne. Bisweilen wurde es mir zu laut, zu komplex; hinter den vielen Stimmen konnte ich manches Gespräch nicht mehr verfolgen. Aber vielleicht repräsentierte gerade das die Tagesform. Denn alle Flüge und Flugversuche des Abends führten stets zurück zum Klavier. „Der Flügel hat heute gewonnen – ich beschwere mich nicht!“

Und die kleine Mashup-Andeutung bestehend aus Yann Tiersens „Comptine d’un autre été: L’Après-midi“ – Amélie lässt grüßen – und Phil Collins‘ „Another Day in Paradise“ verfolgt mich auch immer noch. (Ja, liebe Klavierschüler:innen eines gewissen Alters: exakt so fies, wie es sich liest!)

Ich fasse zusammen: Astra Stube, Volt, Elbphilharmonie (Großer Saal), Laeiszhalle (großer Saal), Knust (Lattenplatz), Kampnagel (K6). Wo wohl das nächste Kapitel geschrieben wird?

Splitter

Da war ich also bei Nils Frahm im Funkhaus Berlin, um die Musik gewissermaßen an ihrem oder zumindest nahe ihres Wohnorts zu besuchen. Weil ich es kann. Allein für den Ort und das Gebäude hat sich die Ausfahrt gelohnt.

Diese Atmosphäre. Diese Akustik! Am Sitzkomfort kann man indes noch arbeiten (dass es Sitzkissen gab, bemerkte ich leider zu spät). Und an der Klimatechnik. Und eventuell auch an der Einlassstrategie. Was ich gern noch geschafft hätte: ein Konzertplakat kaufen, um mich damit in die Signierschlange zu stellen. Falls es eines zu kaufen gab. Auf dem Weg zur Unterkunft sah ich zwei Konzertbesucher, die ein völlig durchnässtes Exemplar von einer Plakatwand zu knibbeln versuchten.

Tags drauf hätte ich abends in die FABRIK zu The Notwist gewollt. Ein paar Mal ist dieser Auftritt an- und wieder abgesagt worden. Als es endlich soweit war, musste ich der Migräne den Vortritt geben. Unschön. [Hier bitte einen kräftigen Fluch nach Wahl einsetzen.]

Wieder ein paar Tage später war ich bei Emilíana Torrini und The Colorist Orchestra im Großen Saal der Elbphilharmonie. Das Konzert war sehr schön.

„Caterpillar“ war leider nicht auf der Setlist.

Den darauffolgenden Montagabend verbrachte ich im Kleinen Saal der Elbphilharmonie. Alexandre Kantorow spielte sehr überzeugend Brahms und Schubert. Und die Zugaben – vor allem die letzte, der „Türkische Marsch“ von Mozart in einer Bearbeitung von Arcadi Volodos! Vollkommen irre.

Bedauerlicherweise war mir situations- und tagesformbedingt nicht so nach Brahms und Schubert. Aber dafür konnte Alexandre Kantorow nun wirklich nichts.

Das voraussichtlich letzte Märzkonzert war dann gestern Stoppok in der FABRIK. Der Anlass: 30 Jahre „Happy End im La-La-Land“. Was soll ich sagen: There is life in the old Ruhrpott-Rocker yet! Aber hallo. Und in der Band beziehungsweise den diversen Bands. Und in den Gästen, darunter Martin Bechler von Fortuna Ehrenfeld und Phil Siemers. Der „Wetterprophet“ mit Unterstützung aus Kalkutta, bisher nie live gespielte Stücke oder Songs in unbekannten Versionen vom Album des Abends, „Dumpfbacke“ und „Mal Dein Herz an“ mit acht Gitarren und „Zwischen Twentours und Seniorenpass“ und „Aus dem Beton“ als Zugabe: Aus der ganzen Strecke war es das großartigste Konzert. Was ich so wahrlich nicht erwartet hatte.

Aber, um eine alte Weisheit zu zitieren, die sich auch in Stoppoks legendär verwirrt-lakonischen Ansagen wohlfühlen würde: Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

In Concert: Veronika Eberle, Aphrodite Patoulidou, Barbara Hannigan und das London Symphony Orchestra in der Elbphilharmonie

Es ist schon März und es gab noch kein berichtenswertes Konzert? Stimmt nicht ganz. Es gab zum Beispiel ein „Blind Date“, am Valentinstag ausgerechnet, das sich als barocker „Specchio Veneziano“ entpuppte. Das Pariser Ensemble Le Consort spielte Werke von Antonio Vivaldi, Giovanni Battista Reali, Marco Uccellini und Johann Sebastian Bach, und zwar mit einer Verve, die den gesamten (natürlich ausverkauften) Saal begeisterte. Das Hamburger Publikum gegen Ende eines Barockmusikabends zu dreistimmigem Gesang bewegen: Das muss man auch erst schaffen. Und im Januar war ich noch in „Slippery Slope“ im Thalia Theater, vielleicht nur „Almost a Musical“, aber mit unwiderlegbar musikalischem Schwerpunkt. Oder, anders herum: ein schlaues Stück kombiniert mit einem Ritt durch diverse Musikgenres und großartigen Sänger:innen.

Der März wird mir dagegen richtiggehend überladen vorkommen. Den Anfang machten Barbara Hannigan und das London Symphony Orchestra im großen Saal der Elbphilharmonie. Die Motive Tod, Verlust und Trauer zogen sich durch das Programm.

Da war zunächst „Contrapunctus XIX“, das letzte Stück aus der unvollendeten „Kunst der Fuge“ von Johann Sebastian Bach. Mich hat die Bearbeitung für Orchester nicht sonderlich überzeugt. Daran konnte auch die Ausführung durch die Musiker des LSO nicht viel ändern.

Ganz anders erging es mir erwartungsgemäß mit „Dem Andenken eines Engels“ von Alban Berg. Ich bin wahrlich kein Berg-Fan, aber das Violinkonzert hat sich bei mir eingegraben, spätestens seit der Kombination mit „Lulu“ in der Hamburger Staatsoper. Die Kombination aus LSO, Hannigan und Veronika Eberle kann man mit Fug und Recht als Idealbesetzung für dieses Stück bezeichnen.

Die Haydn-Sinfonie hatte wohl am ehesten das Potenzial, das anwesende Publikum zu überzeugen. Während des folgenden Vivier-Stücks hatten manche Zeitgenossen in meiner unmittelbaren Umgebung jedoch Schwierigkeiten, Ernst und Ruhe zu bewahren. Zu größeren Ausfällen kam es glücklicherweise nicht. Zugegeben, so ein Werk wie „Lonely Child“ mit seinem Ausflug in phantasiesprachliche Lautmalerei und deren intensive Interpretation von Aphrodite Patoulidou muss man mögen. Man sollte aber mit Anspruchsvollerem rechnen, wenn man bei Kauf eines Konzerttickets ins Programm schaut und dabei ein Stück aus dem Jahr 1980 erspäht. Ganz sicher war ich auch nicht, ob es mir zusagen würde. Aber ich fand beides faszinierend, sowohl das Stück als auch die Sängerin.

Als Nächstes ist ein Ausflug nach Berlin dran, dann die FABRIK, dann noch zweimal die Elbphilharmonie, wieder die FABRIK und dann ist es auch schon fast April.