Irgendwann Anfang September machte mich Menschen aus dem Internet darauf aufmerksam, dass der Vorverkauf für die alljährliche Aufführung des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach im Hamburger Michel gestartet sei. Das Stück gehörte zu jenen Werken klassischer Musik, die ich bis dahin nur bruchstückhaft kannte. So wie es mir auch mit diversen Operetten und (insbesondere Mozart-)Opern geht: Komplett gehört/gesehen habe ich die nie, aber jeder einzelne Hit daraus ist mir vertraut. Es verhält sich damit ein bisschen wie mit einer Fremdsprache, die man nicht oder nicht „richtig“ gelernt hat, von der man aber in Kommunikationsnotlagen oder beim Bestellen in Webshops ohne deutsche oder englische Sprachfassung überraschend weitreichende passive Kenntnisse abrufen kann (bei mir: Französisch).
Wie dem auch sei: Höchste Zeit, diese Bildungslücke zu schließen! Als Anfängerin buchte ich erst einmal nur die Kantaten I bis III. Das Weihnachtsoratorium, so lernte ich, wird nämlich üblicherweise in Teilen aufgeführt. Im Michel hatte man die Wahl zwischen drei Aufführungen der Kantaten I bis III (Teil I) und zwei Aufführungen der Kantaten IV bis VI (Teil II). Zweimal wurde das gesamte Werk gegeben. Zwischen den Teilen, die ca. 80 bis 90 Minuten dauerten, gab es eine Pause, in der Michelkantor Jörg Endebrock, der Chor St. Michaelis, das Orchester St. Michaelis – bestehend aus Mitgliedern des Philharmonischen Staatsorchesters und des NDR EO – sowie die Solistinnen und Solisten – Magdalene Harer (Sopran), Olivia Vermeulen (Alt), Mirko Ludwig (Tenor) und Konstantin Ingenpass (Bass) – durchschnaufen konnten und dem Publikum „Erfrischungen im Gemeindehaus“ gereicht wurden.
Was mir außer den oben erwähnten Bruchstücken bereits bekannt war: Das Weihnachtsoratorium im Michel gehört für viele Ortsansässige zu dieser Art gesetzter Rituale, ohne die es nicht wirklich Weihnachten werden kann. Augenscheinlich fällt es aber auch für Teile der Zuhörerschaft in die Kategorie „sehen und gesehen werden“. Direkt vor mir auf der Südempore fand sich eine geradezu mustergültige Beispielfamilie zur Bestätigung dieser These, komplett mit einem von einer der Damen als Haarschleife genutzten Christian Dior-Tüchlein. Nun ja. Einen gewissen Unterhaltungswert hat es wenigstens.
Was ich vergessen hatte: Wie unbequem die Bänke auf der als Beobachtungs- und Hörplatz ansonsten perfekten Empore sind. Da ist diese eine Kante oben an der Lehne, die kleinere Menschen vermutlich störungsfrei genau im Nacken haben, bei mir Sitzriesin aber zu einer unfreiwillig geraden und vor allem unangelehnten Sitzhaltung führt. Dankenswerterweise war das Gebäude soweit temperiert, dass ich meine Jacke ausziehen und als Polster nutzen konnte.
Zur Aufführung selbst: Das war echt schön und das vierte Adventswochenende ist auch wirklich der perfekte Aufführungszeitpunkt! Ich bin nicht sicher, ob ich eine jährliche Einrichtung daraus mache, aber vorstellbar ist es durchaus. Da kann ich in Hamburg aus dem Vollen schöpfen: Herr Buddenbohm merkte unlängst an, dass es in keiner Stadt mehr Aufführungen des Werks gäbe als in Hamburg – er hatte es irgendwo gelesen und es wird wohl auch stimmen. Der Michel hat gegenüber allen Konkurrenzorten allerdings den unschlagbaren Vorteil, einen echten Bach im Keller zu haben, liegt doch in der Krypta Carl Philipp Emmanuel alias CPE Bach begraben, einer der Söhne Johann Sebastians.
Apropos Bach-Familie, anderthalb Sätze noch zum ARD-Fernsehfilm „BACH – ein Weihnachtswunder“ (2024), den ich mir am Tag vor dem Konzert als Einstimmung angeschaut hatte und der die (fiktive) Entstehungsgeschichte des Weihnachtsoratoriums zum Gegenstand hat: Das ist im Prinzip eine sehr schöne Idee gewesen, aber leider haben mir weder Devid Striesow als Johann Sebastian noch Verena Altenberger als Anna Magdalena Bach sonderlich gut gefallen. Zuviel Drama, zu wenig Musik!