The Show must go online (2)

Allmählich ruckelt sich so etwas wie ein Tagesschema jenseits des Heimbüros zurecht. Wichtigste Maßnahme: Einschränkung bzw. Regulierung des Nachrichtenkonsums. Hilft enorm. Ich bilde mir ein, dass man das auch an der folgenden Liste ablesen kann.

The London Symphony Orchestra is „Always Playing“. Immer donnerstags und sonntags auf YouTube.

Das kennen wahrscheinlich inzwischen schon alle, es sei dennoch aus dokumentarischen Gründen aufgeführt: Daniel Matarazzo mit der Corona-Version von „Supercalifragilisticexpialidocious“.

Einen deutschen Corona-Song gibt es inzwischen auch, und zwar von den Ärzten.

Gary Barlow macht derweil mit „The Crooner Sessions“ auf sich aufmerksam. Ein Highlight: Folge 6 mit Beverley Knight. Sensationell.

Weitere Gäste sind u. a. Rick Astley, Olly Murs und Alfie Boe (!).

Die Elbphilharmonie im Homeoffice: Geboten werden Konzertaufzeichnungen, Livemusik und „Zuhausführungen“.

Apropos, Maike macht normalerweise Hafentouren („niveauvolle Hafenschnackerei jenseits der krummgebogenen Bananen“), sitzt aber momentan coronabedingt hoch & trocken. Und hat sich daher aufs Podcasten verlegt.

Um das Stückwerk meines höchst subjektiven Sammelsuriums zu ergänzen, werde ich an dieser Stelle gelegentlich auch auf die Listen anderer Leute verweisen. Fürs klassische Fach empfehle ich die „COVID-19 live streams“ des Musikkritikers Alex Ross, der zum Thema zudem noch einen lesenswerten Artikel für den „New Yorker“ verfasst hat.

I sat and watched at my home laptop, I became sufficiently immersed in the music that I forgot about the peculiar context, and it was a shock when stony silence intruded at the end,

schreibt er über das Geisterkonzert der Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle am 12. März 2020.

The final silence was a vacuum crying to be filled.

Genau so.

Übrigens, wo ich gerade über Herrn Ross spreche: Immer, wenn ich über den Namen stolpere, fällt mir unangenehm auf, dass ich sein Buch „The Rest is Noise“ zwar bereits vor gefühlten Äonen gekauft, aber immer noch nicht gelesen habe. Vielleicht ein Projekt für die nächsten Wochen.

The Show must go online (1)

Nein, der ist nicht von mir – zuerst habe ich das beim „Londonist“ gelesen, aber ich vermute, die haben es auch irgendwo abgeschrieben. Jedenfalls ist es die beste Tagline, die bisher ich zum Thema „Kultur im Internet“ gelesen habe.

Mit meiner Konzentrationsfähigkeit ist es nicht weit her dieser Tage. Das Heimbüro klappt erstaunlich gut, aber für viel mehr reicht es nicht. In einige der neuen bzw. kurzfristig geöffneten/erweiterten Streamingangebote habe ich trotzdem mittlerweile reinschnuppern können.

Die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Da gibt es sogar eine App für meinen Fernseher! Wirklich super, aber der gestreamte Klang ist kein Ersatz für das unmittelbare Erlebnis. Obwohl ich schon nicht die allerschlechtesten Lautsprecher habe.

Wohnzimmerkonzerte von Igor Levit und Svavar Knútur. Stark tagesformabhängig in der Wirkung. Meine Tagesform wohlgemerkt, nicht die der Musiker.

Twitch-Lesungen von Saša Stanišić. Leider verschwitzt, daher quasi blind gespendet dafür. Passt schon.

Oper, Theater und Ballet bei Marquee TV. Ich habe mit „The Tempest“ angefangen, aber das hat mich überfordert. Stattdessen die Bildungslücke „Lady Windermere’s Fan“ gestopft. Auf meiner Watchlist steht nun viermal Shakespeare. Dafür habe ich nun noch bis zum 24. April 2020 Zeit, danach wird die Chose kostenpflichtig. Das ist möglicherweise etwas ambitioniert.

National Theatre at Home. Start am nächsten Donnerstag (2. April 2020) mit „One Man, Two Guvnors“, in der Hauptrolle James Corden.

„National Theatre Live“ heißt in Hamburg „English Theatre“ und wird normalerweise im Savoy Filmtheater gezeigt. Dort gibt es zwar zurzeit keine Vorstellungen, dafür aber Gutscheine zu kaufen, darunter auch eine eigens für die Reihe konzipierte „Theatre Box“.

Sir Patrick Stewart liest #ASonnetADay auf Twitter. Toll.

Apropos Twitter, dort wird James Blunt für diesen Tweet gefeiert:

During lockdown, while many other artists are doing mini-concerts from their homes, I thought I’d do you all a favour and not.

Über 530.000 Likes gab es dafür bisher. Der beiderseitige Galgenhumor ist offensichtlich, nichtsdestotrotz beschleicht mich angesichts dieser Resonanz die Vermutung, nicht die einzige mit einem Reizüberflutungsproblem zu sein.

Aber auch für diese Zielgruppe ist gesorgt. Zum Beispiel mit Initiativen wie dem Soli-Festival „Keiner kommt – alle machen mit“. Total irre, wer da alles nicht kommt!

Zwangspause

Seit Tagen versuche ich, an dieser Stelle über den Auftritt des Brad Mehldau Trio im Großen Saal der Elbphilharmonie am 12. März zu berichten, dem letzten Konzert vor der vorläufigen Schließung des Hauses per Allgemeinverfügung des Hamburger Senats. Darüber, wie es war, im halbleeren Saal zu sitzen, auf einem Einzelplatz im sicheren Abstand zu den übrigen Konzertbesuchern. Über die Ansprache des Intendanten („Wir sind dann erst einmal offline“), über die Dankbarkeit der Musiker, dass trotz der Umstände noch so etwas wie ein Publikum erschienen war, um Resonanz zu erzeugen. Über das Gefühl des Abschieds auf unbestimmte Zeit am Ende des Konzerts und beim Verlassen des Saals und des Gebäudes.

Es ist mir nicht gelungen und es will mir auch jetzt nicht gelingen.

Wie viele von euch war ich in der vergangenen Woche nahezu ausschließlich damit beschäftigt, meinen Alltag umzuorganisieren und zeitgleich den Kontakt mit Familie, Freunden und Bekannten zu halten. Seit Freitag bin ich bis auf Weiteres im Heimbüro und sehr dankbar dafür, dass das möglich ist. Die Tage bis dahin waren derart nervenaufreibend, dass ich nur aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte, was sich parallel im Netz entwickelt hat und noch immer weiter entwickelt. Die Liste der gestreamten Kulturangebote wächst und wächst, ich habe längst den Überblick verloren, bin davon ebenso reizüberflutet wie von den sich überschlagenden Nachrichtenmeldungen.

Jetzt, wo ich mich einigermaßen sortiert habe, werde ich versuchen, den Faden wieder aufzunehmen, dabei im Rahmen meiner Möglichkeiten einigen der zahlreichen Unterstützungsaufrufe zu folgen und eventuell auch ein wenig davon ins Susammelsurium zu übertragen. Versprechen kann ich das nicht, versuchen werde ich es ganz sicher.

Die Opernwerkstatt zu „Norma“ in der Staatsoper Hamburg

Auf den Besuch der Neuinszenierung von Bellinis „Norma“ hatte ich mich am Wochenende auf besondere Weise vorzubereiten versucht, nämlich mit der Teilnahme an der dazugehörigen Opernwerkstatt. Die Opernwerkstatt, so heißt es in der Beschreibung auf der Webseite der Staatsoper Hamburg, „ist ein Kompaktseminar, bei dem die Teilnehmer alle wichtigen Aspekte einer Opernproduktion kennenlernen.“ Geleitet wird sie von Volker Wacker, der im Rahmen dieses Formats seit 1998 an der Staatsoper Hamburg mehr oder weniger lustig Opern erklärt.

Gelernt habe ich tatsächlich in den rund acht Nettostunden: einiges über Bellini, vieles über Belcanto und durch einen episch angelegten „Casta Diva“-Vergleich vor allem, welche Unterschiede es bei verschiedenen Interpretationen zu hören und zu beachten gibt. Mit der Hamburger Neuinszenierung schien sich Volker Wacker dagegen weniger beschäftigt zu haben. Zwar betonte er, wie bedeutsam diese sei, da die Oper in den letzten einhundert Jahren in der Hansestadt nicht mehr szenisch, sondern ausschließlich konzertant aufgeführt worden ist. In der Folge wurden die im Programmheft abgedruckten Fotos und das Interview mit der Regisseurin, das Bühnenbild, die Kostüme, das Verhalten einiger Akteure auf der Bühne in ausgewählten Situationen sowie die musikalische Leitung kurzkommentiert. Wackers Fazit: Die Inszenierung sei zu statisch und beladen mit teils unverständlicher Symbolik und das Dirigat von Matteo Beltrami, der für den erkrankten Paolo Carignani eingesprungen war, viel zu langsam.

So weit, so völlig legitim; niemand muss mögen, auch der oberste Opernwerkstättler nicht. Allein, die Begründungen blieben lapidar und oberflächlich und da ist noch der Ton, der bekanntlich die Musik macht. Auffällig war beispielsweise, dass Wacker die behandelten Sängerinnen und Sänger stets mit vollem Vor- und Nachnamen benannte, ebenso wie Àlex Ollé, den Regisseur der anhand von Videobeispielen präsentierten Londoner Vergleichsinszenierung von 2016, Yona Kim dagegen fast ausnahmslos als „Frau Kim“ bezeichnete, nicht zuletzt in dem oft wiederholten Satz: „Frau Kim ist dazu leider nichts eingefallen.“ Dann waren ihm die Kostüme nicht fraulich genug: Gleich mehrfach hieß es, Marina Rebeka habe doch eine so schöne Figur und niemals könne sie sie zeigen. Dass die von ihm als „Sack und Asche“ und „Eurotrash“ bezeichneten Gewandungen und das spartanische, teils ungemütlich, teils spärlich ausgeleuchtete Bühnenbild sich eventuell auf die harsche, vor Gewaltausbrüchen strotzende Handlung beziehen könnten, schien ihm nicht in den Sinn gekommen zu sein. „Wenigstens hat sie schöne rote Haare!“, so das abschließende Urteil über das Erscheinungsbild der Hamburger Norma. Ein Blick ins Programmheft hätte genügt, um dieser Illusion jede Grundlage zu rauben:

Out of the ash
I rise with my red hair
And I eat men like air.

so das abgedruckte Zitat aus Sylvia Plaths Gedicht „Lady Lazarus“. Man hätte sich natürlich fragen können (müssen!), warum gerade diese Textstelle ausgewählt wurde und in welchem Zusammenhang sie mit der Inszenierung steht. Für Plath und deren Werke hatte Volker Wacker jedoch lediglich ein paar despektierliche Bemerkungen übrig. Das Wort „Weiberkram“ fiel zwar nicht, die Haltung war dennoch unmissverständlich. Da ist diese Oper über eine verzweifelte, aber nichtsdestotrotz starke Frau, inszeniert von einer Frau, die Premiere am heutigen Weltfrauentag. Alles Gedöns? So oder so, es schien keiner Erwähnung wert.

Lange habe ich während des Vortrags überlegt, an wen mich die oft gönnerhaft wirkende, selbstgefällige, abschweifende und mit höchstens halbironisch ausgeführten Bemerkungen der Sorte „so sind sie halt, die Frauen“ gespickte Redeweise erinnerte. Volker Wacker selbst lieferte das Stichwort, bezogen auf ein mögliches Überziehen der Kurslaufzeit: „Kulenkampff und ich“. Ich habe „Kuli“ und „EWG“ als Kind geliebt, musste aber beim Betrachten der (aus anderen Gründen sehr empfehlenswerten) Dokumentation „Kulenkampffs Schuhe“ erst kürzlich wieder feststellen: Diese Art der Ansprache ist verdammt schlecht gealtert. Kein Mensch würde heute noch so moderieren, ohne völlig zu Recht vom Schirm gejagt zu werden. Das heißt: Kein Mensch außer Volker Wacker, denn die überwiegend weibliche Opernwerkstattgemeinde goutierte es mehrheitlich; kein Raunen war zu vernehmen, keine hochgezogene Augenbraue sichtbar.

Und so blieb auch die Bezichtigung, Yona Kim habe Elemente aus der Londoner Inszenierung übernommen – guckt mal, die Kinder sind ja auch im Schlafanzug! Und haben eine Spielburg! Und der Teddy da, in beiden Produktionen! Ob das noch Zufall ist, na ich weiß nicht! – bis auf eine Gegenmeldung unwidersprochen. Die folgerichtig abgebügelt wurde. Sonia Ganassi als Londonder Adalgisa bekam nebenbei das wenig schmeichelhafte Etikett „verblühte Schönheit“ aufgedrückt, „… und dann läuft da so ein Häschenfilm“. Der „Häschenfilm“ war „Watership Down“, eingeblendet ungefähr ab der Szene, in der die blutbefleckten Zähne des General Woundwort auftauchen. Durch die wiederum dereinst eine ganze Generation von Kindern traumatisiert wurde. Schlagt mich, aber man darf ziemlich sicher davon ausgehen, dass Àlex Ollé sich dabei etwas gedacht hat.

Ich bin und bleibe in Fach (Musik-)Theaterregie zweifelsohne der Dummie, aber für diese Erkenntnis reicht es: Dieser Referent hatte seine Hausaufgaben nicht gemacht. Ob aus mangelndem Interesse an Yona Kim und ihrer Inszenierung oder aufgrund des Bewusstseins, sich ungeachtet der präsentierten Inhalte eines treuen Publikums sicher sein zu können, sei einmal dahingestellt. Der Altersschnitt der Zuhörerschaft von Mitte 60+ wird sich wohl aber nicht in erster Linie aus diesem Grunde in nächster Zukunft kaum senken.

Schade.