Ja, ich weiß, ich bin unverzeihlich spät! Aber weiterhin wild entschlossen, nicht mehr als unbedingt notwendig abzukürzen. Deshalb folge ich einer in meiner Familie zur Tradition gewordenen Reaktion auf verspätete Meldungen und tue einfach so, als sei noch Ende August. Das werde ich sukzessive fortführen, bis ich die Gegenwart wieder eingeholt habe.
Zunächst also der angekündigte Sommerfestival-Bericht! Sechs Veranstaltungen habe ich geschafft in diesem Jahr, vier auf Kampnagel, eine in der Seilerstraße auf St. Pauli und eine in der Elbphilharmonie. Das sind immerhin zwei mehr als 2023.
Lucinda Childs Company: Four New Works
Die Eröffnung ist grundsätzlich nett: Es gibt Sekt, ich treffe garantiert Menschen, die ich kenne, Carsten Brosda hält eine Rede (das lohnt sich eigentlich immer), András Siebold rauscht in schwindelerregendem Tempo durchs Programm und die Auftaktveranstaltungen haben mir auch meistens gefallen. Dieses Jahr hatte Lucinda Childs die Ehre mit „Four New Works“. „ACTUS“, das erste Werk, hat nicht weh getan, mich aber auch nicht sonderlich berührt. Um das zweite Werk, „GERANIUM ’64“, wertschätzen zu können, war es hilfreich, auf einem Platz nicht all zu weit von der Bühne entfernt zu sitzen und des Werkes der Künstlerin kundig zu sein oder aber wenigstens den Text des Abendzettels vorab gelesen zu haben. Ansonsten hätte ich den Bezug zu einem Footballspiel wohl nicht herstellen können. Unabhängig davon war es aber schlicht auch faszinierend, die 1940 geborene Childs selbst in Aktion zu erleben – und sei es „nur“ in Zeitlupenaktion. Das dritte Werk, „TIMELINE“, stach durch die Komposition von Hildur Guðnadóttir hervor, aus der sich nur sehr schwer ein Takt oder Puls ableiten ließ. Umso beeindruckender die individuelle und kollektive Leistung der Tänzerinnen und Tänzer. Das vierte Werk, „DISTANT FIGURE“, musste mich tänzerisch nicht überzeugen – mit Philip Glass kriegt man mich immer. Zumal die Live-Begleitung am Klavier durch Anton Bagatov erfolgte, für den Glass das der Choreographie zugrundeliegende Stück „Distant Figure (Passacaglia for Solo Piano)“ ursprünglich komponiert hatte.
Auf dem Programm standen außerdem noch zwei Klavierstücke („INTERLUDES“). Ich bin, bedingt durch den geraumen zeitlichen Abstand, inzwischen nicht mehr sicher, ob auch wirklich beide Werke vorgetragen wurden. Jedenfalls erinnere ich nur eine Pause und eines der Stücke, nämlich das, was nicht „The Poet Acts“ aus „The Hours OST“ von Philip Glass war: „Lyrical Music“ aus „Unfamiliar Weapon OST“, komponiert vom Vortragenden selbst. Der Unruhe im Saal zufolge gefiel die Unterbrechung nicht allen Anwesenden, mir dagegen sehr. Bedauerlicherweise konnte ich das Stück bis jetzt noch nirgendwo auftreiben. Bei den üblich-verdächtigen Streaming-Diensten ist es nicht gelistet. Es mag daran liegen, dass das fragliche Album „Music For Films“ bei einem russischen Label erschienen ist.
Jaha Koo/Campo: Haribo Kimchi
Bedauerlicherweise hatte ich es 2018 nicht zu den sprechenden Reiskochern („Cuckoo„) geschafft und 2020 auch „The History of Korean Western Theatre“ verpasst. Immerhin, im dritten Anlauf hat es geklappt mit mir und Jaha Koo!
Die Kulisse für „Haribo Kimchi“ bildet ein (oder eine?) Pojangmacha, das ist eine typische südkoreanische Imbissbude. Zwei Gäste aus dem Publikum werden live bekocht, derweil berichtet der Künstler und Koch von persönlich-kulinarischen Erfahrungen in Korea und als Koreaner in Europa. Zum Einsatz kommen dabei auch Musikvideos mit einer Schnecke und einem Gummibären als Protagonisten sowie ein robotischer Aal. Aus dieser auf den ersten Blick eigentümlichen Mischung entsteht eine berührende Poesie – gelegentlich haarscharf am Kitsch entlang, aber dicht daneben ist bekanntlich auch vorbei. Mich hat das vollkommen überzeugt, sowohl die einzelnen Teile als auch das Gesamtkunstwerk. Stücke von Jaha Koo gelten hiermit bis auf Widerruf als gesetzt. Ich hoffe, ich kann „Cuckoo“ und „The History of Korean Western Theatre“ irgendwann und irgendwo nachholen.
Nesterval: A Dirty Faust
Schon länger als gesetzt gelten bei mir alle Nesterval-Aufführungen und ein Widerruf ist auch nach „A Dirty Faust“ nicht in Sicht. In dem Stück wird Goethes Faust mit der Geschichte des Films „Dirty Dancing“ aus dem Jahre 1987 kombiniert, wobei ein Schwerpunkt auf dem Themen Vergewaltigung, (illegale) Abtreibung und weibliche Selbstbestimmung liegt. Aufführungsort waren verschiedene Stockwerke und Räume der alten Schule in der Seilerstraße auf St. Pauli, durch die man in Gruppen von einzelnen Charakteren mitgenommen wurde. Aufgrund der örtlichen Begebenheiten war man allerdings sehr viel unterwegs – „viel Gerenne, wenig Theater“, so die lakonische Bilanz einer der Teilnehmer. In beiden Durchläufen folgte ich „Dirty Dancing“-Charakteren; beide Rollen waren angereichert mit Backstories, auf die die Drehbuchschreiber und -innen wohl nicht gekommen wären. Hätte ich den Film nicht gekannt, hätte ich mir allerdings keinen Reim auf die Bruchstücke machen können, die ich zu sehen bekam. Noch mehr als bei anderen Nesterval-Stücken wäre es notwendig gewesen, zwei oder drei Aufführungen zu besuchen, um eine einigermaßen vollständige Vorstellung von dem Stück zu bekommen.
Ein bisschen ungünstig war auch, dass Teile des Publikums mitten in den beiden durch eine Rahmenhandlung verbundenen Handlungsdurchläufen die Gruppen wechselten. Einerseits wurden einige Gruppen dadurch so groß, dass es in manchen Szenen räumlich eng wurde. Andererseits brachte mich das in den Genuss einer buchstäblichen 1:1-Performance. Wäre das meine erste immersive bzw. Nesterval-Theatererfahrung gewesen, hätte ich an dieser Stelle wohl die Flucht ergriffen; es wäre mir ziemlich sicher unangenehm gewesen. Da ich aber sowohl das Prinzip als auch den Schauspieler kannte, blieb ich drin und nahm es als Geschenk.
Zum Abschluss tanzten alle zu „(I’ve had) The Time of My Life“ und ja, es war schon auch ein ordentlicher Schuss Nostalgie dabei. Zumindest für Menschen ab einem gewissen Alter, mich inklusive. Schließlich war „Dirty Dancing“ der erste Film, den ich in einem „richtigen“ Kino gesehen habe – wenn ich mich recht erinnere, war das im ehemaligen Nordstern-Kino in Lippstadt, in dem später eine Kirche (!) Unterkunft fand – und wir haben damals in der Tanzschule alle den Mambo getanzt.
Cat Power sings Dylan
Ein bisschen Sorge hatte ich schon, als Cat Power auf die Bühne kam und mit den ersten Songs startete. Gleich zwei Teetassen standen auf dem kleinen Tischchen neben ihrem Platz und irgendwie wirkte und klang die Sängerin unsicher. Aber mit jedem weiteren Song steigerte sich Power und zog nach und nach den Saal mehrheitlich in ihren – und natürlich Bob Dylans – Bann.
Ein großes Projekt und ein gelungener Abend. Ich verneige mich.
A.I.M. by Kyle Abraham: CASSETTE VOL. 1
Auch bei „CASSETTE VOL. 1“ überkamen mich nostalgische Gefühle, handelt es sich dabei doch um ein 80er- und 90er-Jahre Mixtape. Ein bisschen „Boy meets Girl“-Handlung war der Choreographie auch zu entnehmen. Mir kam es ansonsten etwas lang vor, bis das Pas de deux über eine Langversion von Extremes „More Than Words“ fast zum Schluss wieder meine volle Aufmerksamkeit forderte. Eigentlich konnte ich den Song längst nicht mehr hören, aber das war so, so schön! Mit diesem neuen Kontext werde ich das Stück jetzt tatsächlich wieder genießen können.
Ein bisschen fies fand ich, dass die Kritik im Hamburger Abendblatt von dessen Autor auf diversen Social Media-Kanälen mit „Love is a Battlefield“ angeteasert wurde und dann kam der Song überhaupt nicht vor! Aber dafür kann Kyle Abraham natürlich nichts.
Pop-Up Restaurant: Suvir Saran
And now to something completely different, die Zutaten: ein Zelt als Pop-Up Restaurant, ein Sternekoch und Geschichtenerzähler, eine Sängerin (Marina Ahmad) und ein Musiker (Manao Doi) und ein indisches Drei-Gänge-Menü. Das hätte phantastisch werden können. Leider litten die Gerichte unter den sicherlich nicht optimalen Bedingungen einer Food-Truck-Küche und die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren eher an dem kulinarischen Part interessiert als an den Geschichten und der Musik. Warum Sarans Mikro nicht eingeschaltet war, erschloss sich mir auch nicht. Für ihn wurde es dadurch umso schwieriger, die Aufmerksamkeit seines Publikums zu halten. Dazu war die Veranstaltung zeitlich sehr limitiert und wirkte dadurch gehetzt. Zumindest für Einzelgäste war außerdem unbefriedigend, dass es den Wein nur flaschenweise zu kaufen gab. Ausgeglichen wurde das ein wenig durch das Glas Champagner, das als Aperitif gereicht wurde.
Irritiert hat mich die offensichtliche Werbung für die authentikka-Restaurants in Hamburg. Wurde uns da jetzt ein Sternekoch- oder ein authentikka-Menü serviert (zumal auf Plastikgeschirr, ein weiterer Abzug in der B-Note)? Nichts gegen authentikka, es ist lecker da, aber die Performance fühlte sich dadurch doch ein klein wenig nach Mogelpackung an.
Der Festival Avant-Garten wurde gestaltet von 4E, einem Team aus Architekten und -innen der HafenCity Universität Hamburg. Ich mache es kurz: Das hat mich nicht überzeugt. Die Waldbühne war schön – da kann man aber auch nicht viel verkehrt machen – und der Platz vor dem Soli-Casino. Der Rest wirkte irgendwie ungemütlich und war größtenteils verwaist. Allerdings habe ich es zu den Kopfhörer-Parties dieses Jahr gar nicht erst geschafft. Mir fehlt da also vielleicht das eine oder andere Puzzlestück.
Anri Sala: Take over (Internationale)
Fehlt noch die Video-Installation „Take over (Internationale)“ von Anri Sala in der Vorhalle. Neben der Instrumentalversion der Hymne („Völker hört die Signale…“) treten in den Hauptrollen die Hände eines Pianisten und die Tastatur eines Disklaviers auf und schon deshalb fand ich das Werk großartig. Im Übrigen kam mir der Raum, in dem das Instrument stand, sehr bekannt vor.
Unterm Strich war das kein schlechter Jahrgang! Ich bin gespannt aufs nächste Jahr.